Beginnen wir mit dem großen Ganzen. Zunächst ist einmal positiv hervorzuheben, dass man vom Staat hinsichtlich seiner unmittelbaren Grundrechte in guten Zeiten relativ wenig mitbekommt und sie schlicht gewährt werden. Schwieriger liegt der Fall, wenn die Zeiten nicht ganz so gut sind oder gar eine Krise herrscht, zumal eine Gesundheitskrise. Im letztgenannten und heute vorliegenden Fall spielt insbesondere das Recht auf Leben eine dominierende Rolle. Jedenfalls in der Wahrnehmung. Denn verfassungsrechtlich handelt es sich bei dem Recht auf Leben um ein gleichrangiges Grundrecht neben den anderen Grundrechten, welches zudem auch gesetzlich ausdrücklich eingeschränkt werden darf. Eine gewisse primus-inter-pares-Stellung wird dem Recht auf Leben jedoch implizit durch die Positionierung in Artikel 2 des Grundgesetzes und somit gleich hinter der Unantastbarkeit der Menschenwürde eingeräumt. Dennoch bleibt die Gleichrangigkeit mit anderen Grundrechten. Das Problem in einer komplexen Situation, wie sie in einer Krise klassischerweise vorherrscht, ist nun, dass Güter gegeneinander abgewogen werden müssen. Ist das Recht auf Leben höher zu gewichten als das Recht auf Bewegungs- und Reisefreiheit? Dies ist eine politische Frage. Und Politik ist keine abgegrenzte Wissenschaft im luftleeren Raum, sondern Politik hat eine Schnittpunktfunktion zwischen allen vorhandenen Akteuren, zwischen allen vorhandenen Vorstellungen und allen anzustrebenden Zielen. Deshalb ist die Aufgabe von Politik, auch wenn es heute zur Mode geworden ist, alles Umzusetzende schon vorab mit dem Wort „klug“ zu attributieren (und nachher oft genug das Gegenteil hervorzubringen), tatsächlich: klug abzuwägen.
Unseres Erachten greift daher die klassisch deutsche Pauschalkritik an „der“ Politik in der Regel zu kurz. Es ist durchaus anzuerkennen, wenn jemand zu einem in der Regel nicht zwingend überzeugenden Salär in eine politische Position geht, in der man, gerade in Krisen, eigentlich nicht gewinnen kann. Denn Abwägung heißt, dass der eine irgendetwas abgeben muss und der andere etwas bekommt. In einer Gesellschaft wie der deutschen, in der Neid und Missgunst eine so überragende Rolle spielen, ist das politische Prinzip also a priori ein Prinzip, das Widerspruch und Widerstand hervorruft, wenn die politischen Entscheidungen quasi am eigenen Leib spürbar werden. Z.B. durch Ausgangsbeschränkungen oder gar Ausgangssperren.
Hinzu kommt, dass, wie Precht kürzlich bei Lanz treffend festgestellt hat, der Bürger aufgrund einer durchaus besorgniserregenden Tendenz hin zum Paternalistischen von seinen eigenen Pflichten und seiner Verantwortung als Staatsbürger zunehmend entwöhnt wird. Bis auf die FDP, die traditionell auf Eigenverantwortung setzt, und möglicherweise mit Abschlägen – aber sicher diskutabel – die CDU, können wir bei keiner im Bundestag vertretenen Partei erkennen, dass sie dem Paternalismus prinzipiell abgeneigt ist. Es ist aus einer solchen Position des bloß Berechtigten, aber vermeintlich nicht Verpflichteten, immer leicht, Vorwürfe und Wünsche zu verteilen sowie Ansprüche zu stellen. Aber gerade das Prinzip des Abwägens, das Politik ausmacht oder ausmachen sollte, wird vom Bürger oftmals selbst nicht beachtet, weshalb eine Diskussion unter den gemeinen Menschen zwar wunderbar basisdemokratisch und kantig formuliert sein wird, aber regelmäßig einer gebotenen Güterabwägung im allgemeinen Interesse nicht gerecht werden dürfte. Jeder dürfte bei sich selbst beobachten, dass er den Kant’schen Imperativ, wonach man stets so handeln sollte, wie man wollen könnte, dass es allgemeines Gesetz werde, wohl regelmäßig eher nicht als Maxime des eigenen Lebens begreift. Precht führt weiter aus, dass aus Paternalismus und anderen genannten Entwicklungen eine relativ aggressiv vertretene Ich-Mentalität resultieren kann, deren Konzentrat sich regelmäßig auf Corona-Demos manifestiert. Auch dieser Diagnose können wir uns grundsätzlich anschließen.
Wir schicken dies voraus, da die politische Bewertung der Krisenpolitik hochkontrovers ist und eine Voranstellung der Erinnerung an das Gebot der Mäßigung sicherlich allen, auch uns, nicht schadet. Wir könnten natürlich jetzt auch einfach das Reizwort Politik zum Anlass nehmen, pauschal und hemmungslos loszurotzen und über alles und jeden herzuziehen. Das tun aber schon alle und das bringt auch niemanden wirklich weiter. Dabei ist die Krise doch auch ein willkommener Anlass, sich einmal intensiver mit unserem Staat, seinen Vertretern und der staatlichen Willensbildung zu beschäftigen und möglicherweise etwas besser zu verstehen, wie ein Rädchen in ein anderes greift, ohne gleich die großes Weltverschwörung zum Nachteil des Volkes diagnostizieren zu müssen.
Gerade an den überkochenden Emotionen der vorangegangenen Krise, aber auch an der öffentlichen Manifestation des lauten Geschreis einer ich-zentrierten Minderheit auf Corona-Demos sieht man, warum es seinen guten Grund hat, dass es in Deutschland keine direkte Demokratie gibt und wohl nie in Reinform geben kann, warum die Gewalten geteilt sind und der Bundeskanzler nicht direkt gewählt wird. In Deutschland regierte sonst der unreflektierte Affekt und die Titelseite der Bild-Zeitung. Selbst die Leser wertiger Blätter werden zugeben müssen, dass sie von zeitgeistigen Wellen nicht unbeeinflusst bleiben. Womit wir sicher nicht alle in Sippenhaft nehmen wollen, denn der überwiegende Teil ist zu Maß und Mitte durchaus in der Lage.
Gleichzeitig sieht man gerade jetzt in der Krise, wie gut unser Rechtssystem funktioniert, etwas woran uns allen am meisten gelegen sein sollte und was auch einer der wesentlichen, aber oft unterschätzten Standortfaktoren ist. Denn exekutiv verordnete Maßnahmen wurden in etlichen Gerichtsverfahren aufgrund nicht sichergestellter Verhältnismäßigkeit kassiert. Ganz offen und demokratietheoretisch fragwürdig erscheint sicher auch die Bund-Länder-Runde, die sich als Krisenbewältigungsgremium etabliert hat. Zugegebenermaßen war uns von Anfang der Krise an etwas unklar, warum denn nun die Länder und ihre Ministerpräsidenten so eine dominante Rolle spielen, hätte man doch eigentlich erwartet, dass der Bund in einer gesamtdeutschen Krisensituation die Leitfunktion an sich zieht. Zudem wird von allen Seiten die mangelnde Beteiligung des Bundestags kritisiert. Hierfür müsste der Bundestag aber zuerst einmal zuständig sein. Bekanntlich sind wir ein föderaler Staat mit verschiedenen Ebenen und auf diese jeweils entfallende Aufgabenverteilungen, die sich am Subsidiaritätsgrundsatz orientieren. Hierzu haben wir selbst erst einmal schauen müssen, wie sich die derzeitigen Maßnahmen rechtlich überhaupt übergeordnet darstellen, da wir festgestellt haben, dass wir uns ganz ohne Grundverständnis schlicht keine Meinung erlauben können.
Grundgesetzlich ist es nämlich so, dass es eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes gibt (Art. 70, 71, 73 GG), die auf relativ wenige Bereiche beschränkt ist. Im Übrigen besteht die sogenannte konkurrierende Gesetzgebungskompetenz (Art. 72, 74 GG), so auch im Bereich des Infektionsschutzes (Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG), wonach grundsätzlich die Bundesländer jedes für sich dafür zuständig sind, Gesetze zu erlassen, es sei denn der Bund zieht die Gesetzgebung an sich. Dann würde die Bundesgesetzgebung die Landesgesetzgebung sperren. Plastisch wird das etwa an den Steuergesetzen, die auf der Basis des Artikels 105 GG im Interesse der Einheitlichkeit in der Regel Bundesgesetze sind. Deshalb gibt es ein bundesweit einheitliches Einkommensteuergesetz und nicht 16 verschiedene Landeseinkommensteuergesetze.
Seit etwa 20 Jahren gibt es ein Infektionsschutzgesetz (IfSG) auf Bundesebene und schon beim Erlass eines eigenen bayerischen Infektionsschutzgesetzes im letzten Jahr wurde deshalb vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestags bezweifelt, ob dieses überhaupt wirksam erlassen werden kann. Der Bundestag wird insoweit einbezogen, als dass er eine Epidemische Lage von nationaler Tragweite feststellen kann, auf deren Basis das Gesundheitsministerium bestimmte erweiterte Ermächtigungen im Bereich der Gesetzesanwendung und Grundrechtsbeschränkungen erhält. Auch dies wird verschiedentlich, insbesondere verfassungsrechtlich, kritisiert, da für eine solche Ermächtigung Grenzen gelten. Nach der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Wesentlichkeitstheorie wäre der Bundestag mit allen Fragen selbst zu befassen, die wesentliche Grundrechtseinschränkungen betreffen. Die Argumentation, der Bundestag hätte der Ermächtigung in §§ 5 und 28a IfSG zugestimmt, ist zwar sachlich nicht falsch, aber an dieser Stelle seitens der Exekutive ein Stück weit wohlfeil, denn CDU/CSU und SPD stellen ja die Mehrheit im Bundestag und so sind es die Fraktionen der Exekutive, die das Legislativorgan nun zumindest auf Zeit (Drei-Monats-Zeiträume) entmachten. Wohl im Wesentlichen hiergegen richtet sich die allgemeine Kritik.
Die Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite gilt künftig als aufgehoben, sofern der Deutsche Bundestag nicht spätestens drei Monate nach deren Feststellung das Fortbestehen feststellt.
Epidemische Lage von nationaler Tragweite besteht fort
Tatsächlich wiegt für uns das Argument schwer, dass, wie das Wort Parlament ja schon ausdrückt, die beschlossenen Maßnahmen im Bereich der Grundrechtseinschränkungen zumindest mal öffentlich aus“parliert“ werden sollten. Auch wenn man die politischen Positionen der Oppositionsparteien nicht teilen würde, schadet es nie, wenn Dinge aus einem anderen Blickwinkel betrachtet und öffentlich disktutiert werden. Dann müsste man sich auch nicht die Blöße geben, dass die Bund-Länder-Runde nicht vertraulich tagen kann, weil kontinuierlich an die Medien durchgestochen wird. Welches Bild gibt es für die Krisenbekämpfung eines ganzen Landes ab, wenn nicht einmal eine Runde von 60 Teilnehmern vertraulich gehalten werden kann? Und die Medien anscheinend sogar bis aufs Bildmaterial live dabei sind.
Nach unserem Verständnis wäre es jedenfalls durchaus möglich, von der gegenwärtigen Praxis eines Bundesinfektionsschutzgesetzes mit umfangreichen Verordnungsermächtigungen auf Länderebene mit der Folge einer undurchschaubaren Rechtsfragmentierung abzuweichen und im Bund eine Führungsrolle unter Beteiligung des Bundestags bei der Formulierung eines umfassenden, vorausschauenden, systematischen, regel- und evidenzbasierten Maßnahmenkatalogs wahrzunehmen. Infektionsschutz ist also nicht per se „Ländersache“, wie auch wir anfangs der Krise mal irgendwo aufgeschnappt haben. Die Bundesländer wären dadurch im einzelnen etwas weniger flexibel und würden den schon bisher eigenverantworteten Vollzug von Bundesgesetzen ggfs. im Wege der Auftragsverwaltung ausfüllen, allerdings würde die Kakophonie und das teilweise sicherheitspolitische Pfauengehabe, die sich von Beginn der Krise an durch die Maßnahmen ziehen, dadurch möglicherweise begrenzt werden. Die Bund-Länder-Runde scheitert ja auch deshalb öffentlich, weil sie Maßnahmen immer mit dem Ziel der einheitlichen Anwendung beschließt, die dann aber schon einen Tag später doch wieder unterschiedlich ausgeführt werden. Spuren die Länder im Sinne einer regional übergreifenden Strategie aber nicht, muss man die Zügel eben anziehen. Die Krise ist bundesweit und so wäre auch eine stringent geführte Krisenreaktion auf Bundesebene angemessen.
Problematisch an der Bund-Länder-Runde und insgesamt bei der gegenwärtigen Krisenpolitik ist ganz sicher auch, dass die Verantwortlichkeiten verschwimmen. Es ist nicht mehr klar, wer denn bei der Pandemiebekämpfung überhaupt federführend ist, die Bundeskanzlerin, der Gesundheitsminister, die Ministerpräsidentenkonferenz als Kollegialorgan, niemand, alle? Wenn aber nicht klar ist, wer verantwortlich ist, gibt es auch niemanden, den man im Zweifel rausschmeißen kann. Im Ergebnis hat niemand etwas falsch gemacht, wenn niemand verantwortlich ist. So ergeben sich die Maßnahmen unter gegenseitigen Zuständigkeits- und Verantwortlichkeitsverweisen oft auch nur auf einer diffus begründeten Basis von Einschätzungen von „Experten“ und „Wissenschaftlern“, ohne erschöpfend zu erläutern, warum man sich nun genau darauf verlässt, weil Wissenschaft ja in der Regel nicht durch Einmütigkeit voranschreitet, sondern durch das Prinzip gegenseitiger (positiv verstandener) Skepsis und Verbesserung. Ein Bezug auf „die Wissenschaft/-ler“ ist deshalb dem Grunde nach genauso unzulässig oder jedenfalls wertlos, wie der isolierte Vergleich zweier absoluter Inzidenzzahlen. Die Frage der Letztzuständigkeit ist zwar faktisch ganz einfach zu beantworten – die Bundeskanzlerin -, jedoch drängt sich dieser Eindruck im praktischen Erleben nicht auf. Führung ist nicht wahrnehmbar und das dürfte einer der kommunikativen Kardinalfehler dieser Krise sein. Umso überraschender folgte die Übernahme der Verantwortung für das Osterruhe-Chaos mit der Bezeichnung „Fehler“.
Was uns jedenfalls in der derzeitigen Krise nicht weiterhelfen wird, ist das miunter überraschend weitverbreitete notorische Geheule in Deutschland, dass autokratisch regierte Staaten ganz anders an die Sache herangehen. Das mag in Bezug auf China noch eine Berechtigung haben können, wird jedoch in den Fällen Brasilien und der Türkei hochgradig fraglich. Der Verweis darauf, dass es autokratische Länder oder quasi-Autokraten wie Trump und Johnson besser hinbekommen, zeigt, dass ein Teil der Deutschen auch fast ein Jahrhundert nach der Machtergreifung nicht in der Lage ist, den nicht hoch genug zu schätzenden Wert eines gesicherten Rechtssystems und eines Rechtsstaats zu erkennen, der nun mal nicht wie China mit einem Fingerschnipp unter vollständiger Missachtung all der Werte, die vom Westen als universell unterstellt werden, entscheiden kann. Rein rechtlich jedenfalls hat der gesetzgebende Bundestag in § 28a Abs. 3 IfSG festgelegt, dass das Recht auf bzw. Schutz des Lebens in der Güterabwägung der Grundrechtseinschränkung höher zu gewichten ist und die Maßnahmen sich daran auszurichten haben. Wenn man also unbedingt herummäkeln möchte, dann doch bitte nicht an der demokratisch gebotenen Beteiligung der Volksvertretung und der verschiedenen Organe an der Gesetzgebung, die ja stattfindet, sondern an der intellektuellen Qualität und Stringenz der getroffenen Beschlüsse. Denn auch wenn Politik das Geschäft des Abwägens unter Unsicherheit ist, so entschuldigt dies nicht, wenn Maßnahmen ausschließlich politisch motiviert sind und mit Evidenz und Fakten nicht zur Deckung gebracht werden können, oder man nötige Evidenz und Fakten ersichtlich nicht beschafft.
Damit kommen wir vom rechtlichen Rahmen zu seiner exekutiven Ausfüllung und beginnen chronologisch ganz vorne. Eine der wohl interessantesten politischen Fragen dieser Krise ist unseres Erachtens, ob irgendetwas anders gelaufen wäre, hätte sie nicht in China ihren Ursprung genommen. Konkret: China hat geradezu über Nacht 780 Millionen Einwohner in ihrer Bewegung eingeschränkt – halb China -, davon 77 Millionen in kompletter Abriegelung. An alle China-Fans: „Lockdown“ in China ist sicherlich rechtlich etwas ganz anderes als „Lockdown“ bei uns. China als erstes betroffenes Land und gleich ein Land mit einem ohnehin fragwürdigen Verständnis vom Umgang mit den eigenen Menschen. Kann also das autokratische China letztlich als Vorbild für die Grundrechtssuspension in der westlichen Hemisphäre gesehen werden? Hätte es „Lockdowns“ gegeben, hätte es nicht die Bilder aus China gegeben mit den Straßensperren, mit den innerhalb von acht Tagen hochgezogenen Krankenhäusern, mit den mobilen Desinfektionskanonen, die 560 Tonnen Desinfektionsmittel in Wuhan versprüht haben? Hätte die Pandemie nicht in China begonnen, wären die Maßnahmen im Westen die gleichen gewesen? Das wird man leider nie erfahren. Fakt ist, dass China einen medial besonders martialischen Auftritt gewählt hat.
Ob China wirklich der Ursprung ist, ist allerdings auch immer noch offen. Denn italienischer Forscher haben Mitte Dezember 2019 bereits Spuren im Abwasser gefunden. Andererseits besagt eine neuere Studie, dass das Virus in China mindestens seit Oktober 2019 zirkuliert haben sollte. Auch dies wird wohl im Dunkeln bleiben müssen. China war dann relativ schnell nicht mehr im Fokus, nachdem das Virus vollends auf Italien und letztlich auch Deutschland übergegriffen hat. Die schnelle Ablenkung hin zum globalen Geschehen, und natürlich vor allem das vor der eigenen Haustür, hatte entscheidende Vorteile – für China. In den Hintergrund trat, was wann in China wer von wem gewusst wurde und wer in welcher Weise wann (nicht) handelte. China selbst hat entscheidend zur Vernichtung von Beweismaterial beigetragen und behindert bis heute die Aufklärung. Politisch interessant ist, dass China Stand heute der größte Profiteur der Krise ist, dies vor allem vor dem Hintergrund des am Horizont schon deutlich sichtbaren USA-China-Dualismus, der das 21. Jahrhundert sehr wahrscheinlich dominieren wird. Fast vergessen ist im Kontext der Impfstoffdiplomatie, dass der Geschichte bereits die Maskendiplomatie im Frühjahr 2020 vorausging.
Dieses Zitat stammt nicht vom Dezember 2019 oder Anfang 2020. Dieses Zitat stammt aus dem Jahr 2003 und bezieht sich auf die erste Coronavirus-Pandemie, damals noch vorrangig unter der Bezeichnung SARS bekannt. China hatte über viele Wochen Pressezensur betrieben, in der Hoffnung, den Virenausbruch vertuschen zu können. Erst etwa ein Vierteljahr nach dem ersten Fall wurde die WHO über die neuartige Krankheit informiert. China hat also ganz offenbar eine gute Tradition darin, Virenausbrüche zu verschleiern und so das Entstehen globaler Katastrophen erst zu begünstigen. Zum Jahreswechsel 2016/2017 gab es einen weiteren Coronavirus-Ausbruch, der allerdings nur zu einem Durchfallsyndrom bei Schweinen führte. Generell scheint China also ein Brutkasten für Coronaviren zu sein, ohne dass dafür zwangsläufig von einem Laborunfall ausgegangen werden muss. So wie in Deutschland mit der vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe erarbeiteten Analyse zu einer potentiellen Corona-Pandemie gab es auch in China den Ruf nach Analyse und Aufarbeitung. Hier wie dort versäumte die Exekutive eine angemessene Nacharbeitung der vorangegangenen Krisen.
„Wir konstatieren jedenfalls, dass zumindest mal der deutsche Staat […] in dieser Krise viel zu behäbig agierte.“,„Salamitaktik der Maßnahmen und dem konsequenten Hinterherreagieren der Ist-Entwicklung“,„Klein- und Kleinstunternehmer, aber auch der Mittelstand wird gigantische Schäden davontragen.“„Wir müssen testen, testen, testen um so viele Infizierte wie möglich zu finden und zu isolieren. Geld kann hier keine Rolle spielen. Es würde im Übrigen auch weit weniger kosten, als wenn die Wirtschaft vor die Hunde geht.“
Es könnte einem im März 2021 also medial und politisch so vorkommen, als ob wir uns nach wie vor in unserer Gedankenwelt vom März 2020 befinden würden. Vorausgeschickt: richtig ist, dass die Pandemie komplex ist, und zwar so komplex, dass wir selbst an ganz vielen Stellen dieses Artikels Sätze beim Schreiben wieder zurückgenommen haben, weil sie die Komplexität unzulässig unzureichend abbildeten. Auch wir haben natürlich nicht die „eine, alles umfassende“ Lösung und tragen hier nur unsere Auffassung von den Dingen vor, aber immerhin im Versuch, annähernd fair zu bleiben. Dies schließt beispielsweise den Vorwurf eines „Staatsversagens“ in dieser Pauschalität aus, kann aber gleichzeitig nicht bedeuten, dass mit Kritik zu sparen ist.
„Wir haben aus der ersten Welle scheinbar nicht viel gelernt und reagieren in der zweiten mit derselben, mittelalterlichen Methodik“, sagte Felbermayr. Bereits im April hätten Volkswirte für mehr Tests geworben, die Politik habe darauf nur mit Zynismus geantwortet. „Ein Monat Lockdown kostet 10 bis 15 Milliarden Euro Steuergeld. Damit kann man gewaltige Testkapazitäten aufbauen und jeden testen – Von mir aus auch vor dem Besuch eines Lokals.“
Nun haben wir die zweite Wellt hinter uns gelassen und befinden uns inmitten der dritten Welle:
„Deshalb kann der Corona-Gipfel nächste Woche nur wieder Beschränkungen beschließen und die Notbremse zu ziehen, die ja bereits auf dem Papier vorgesehen ist. Mir blutet dabei das Herz“, sagte er der „Passauer Neuen Presse“ (Samstag). „Wir sollten als intelligente und reiche Industrienation doch in der Lage sein, differenziertere Lösungen zu finden. Aber das ist nicht gelungen. Damit bleibt nur wieder ein pauschaler Lockdown. Die Bevölkerung muss noch einmal die Fehler der Politik ausbaden.“
„Bevölkerung muss Fehler der Politik ausbaden“
Weiterhin haben wir im März 2020 geschrieben:
„Wenn wir jetzt scharfe Ausgangsbeschränkungen beschließen, müsste sich die Diskussion eigentlich schon längst darum drehen, wie man selektiv Maßnahmen intelligenter und zielgenauer gestalten kann, wenn sich zehn Tage später ein Erfolg in den Zahlen abzeichnen sollte. Diese Diskussion gibt es noch gar nicht. Das heißt, wir sind immer noch hinter der Kurve gedanklich und noch gar nicht um Schadensbegrenzung bemüht.“
Genau dies ist bis heute der Fall. Wir laufen der Entwicklung permanent hinterher und kommen nicht weg von der Pauschalität der Maßnahmen. Wir diskutieren, was ist, und haben keinerlei vorausschauenden Plan für die anstehenden Themen, sei es nun Impfen, Testen oder Öffnen. Weder schaffen wir vorausschauend die Möglichkeit, im Zweifel Notfallkrankenhäuser aufzustellen, noch schaffen wir die Möglichkeit von temporären Zuliefererproduktionskapazitäten für die Lipid- oder Verpackungsproduktion. Da wir deshalb permanent unvorbereitet auf die Entwicklung treffen, kommen wir aus dem andauernden Notfallaktionismus nicht heraus. Von Biontech war ab Januar 2020 (!) bekannt, dass ein Impfstoff entwickelt wird. Aus Asien war ab April 2020 bekannt, dass es Schnelltests für Corona gibt.
Dass die großen Infektionsbrennpunkte Schulen, Arbeit und Privat eher zurückhaltend reguliert werden, während gleichzeitig die Baumwipfelpfade der Erlebnis Akademie AG, die Sessellifte in den Skigebieten und Schlittenfahren im Freien jeweils geschlossen sind oder unterbunden werden, ist nicht nachvollziehbar, genau wie Maskenpflicht an der frischen Luft in Innenstadtbereichen. Gleichzeitig ist nicht nachvollziehbar, warum Ferienhäuser geschlossen sind und der schlichte Fakt der Einreise aus einem 250er-Inzidenzausland wie beispielsweise Österreich deshalb zu einer mindestens fünftägigen Einsperrung in Deutschland führt. Dies natürlich erneut vor dem Hintergrund der konstanten Positivrate bei höherer Testzahl, wobei hierzulande die Inzidenz ja gleichfalls – nominal – 125 beträgt, allerdings viel weniger getestet wird. Zweihundert Testpositive auf einhunderttausend Menschen in sieben Tagen. Dies rechtfertigt ein Jahr nach Pandemieausbruch angeblich immer noch eine mehrtägige Quarantäne und dies in Zeiten, in denen uns mittlerweile sogar massenhaft Tests zur Verfügung stehen. Dies ist offensichtlich nicht verhältnismäßig und wenn es rechtlich doch als verhältnismäßig einzustufen sein sollte, wäre es jedenfalls mit unserem hohen Anspruch an Problemlösungskompetenz nicht vereinbar. Was man außerdem im Zusammenhang mit den Einreisekontrollen feststellen kann, ist zum einen ein massiver Eingriff in die Bewegungsfreiheit in Europa, und zum anderen ein bemerkenswerter Unilaterialismus von deutscher Seite.
Schauen wir uns das Thema Impfstoffbeschaffung an und das dürfte gar nicht allzu groß zu behandeln sein. Zunächst erscheint doch bemerkenswert, wie schnell im Januar 2021 die mediale Stimmung umgeschlagen zu sein scheint. Denn es war noch im Dezember völlig klar für alle Seiten, dass es zunächst viel zu wenig Impfstoff geben wird – zunächst mal unabhängig von den Gründen. Diese Klarheit wurde beginnend mit Januar 2021 der Exekutive jedoch zum Vorwurf gemacht. Dem können wir uns nicht anschließen. Und natürlich hätte Deutschland den Impfstoff auch ohne die EU kaufen können. Das wäre möglicherweise sogar schneller, billiger und umfassender gewesen. Dennoch darf man nicht vergessen, dass Deutschland sich einem supranationalen Konstrukt angeschlossen hat, das sich seit 1992 zu einer immer engeren Union bekennt. „Mehr Europa“ kann nicht nur in Sonntagsreden gelten. Mit guten Gründen konnte man deshalb der EU die Impfstoffbeschaffung grundsätzlich überlassen, auch dies kann man unseres Erachtens nicht per se zum Vorwurf machen. Auch wenn die EU mit ihrer Bestellung spät dran war, hat Biontech selbst geäußert, dass man selbst bei früherer Bestellung zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr Impfstoff hätte liefern können.
Fakt ist auch, dass es im Ergebnis jedenfalls virologisch und humanitär egal ist, wer nun wann wie schnell Impfstoff zuerst erhält. Denn 60-70% der Weltbevölkerung müssen geimpft werden. Würde sich Deutschland zuerst immunisieren, fehlte der Impfstoff woanders auf der Welt, wo das Virus dann umso besser zirkulieren könnte. Die hohe Mutationsrate ist mittlerweile offensichtlich geworden, sodass die Impfung Deutschland nichts bringt, wenn nicht auch anderswo die hohe umlaufbedingte Mutationsfähigkeit des Virus eingedämmt werden kann. Auch das Argument, dass mit jeder Nichtimpfung in Deutschland Menschenleben gefährdet werden, greift jedenfalls menschlich nicht durch, denn das dann alternativ in Deutschland geschützte Leben führt dazu, dass eben anderenorts Leben ungeschützt bleibt. Das große Dilemma dieser Pandemie ist nun einmal, dass es Tote gibt, dass man Menschenleben aber nicht gegeneinander aufrechnen oder ihm eine unterschiedliche Wertigkeit zuschreiben kann, wenn einem das Grundgesetz wirklich am Herzen liegt und die Würde des Menschen, und das heißt jedes Menschen, unantastbar ist. Der Deutsche hat so viel natürliches Anrecht auf eine Vorzugsbehandlung beim Impfstoff wie jeder andere Mensch auch. Dennoch gibt es abseits von Virologie und Humanitarismus natürlich politische und ökonomische Realitäten, sodass sich Deutschland über die EU kraft Geldes doch nun schon ein großes und frühes Stück vom Kuchen gesichert hat. Und trotz der Tatsache, dass man nun schon weit vor dem Rest der Menschheit drankommt, findet der Deutsche Anlass zum Beschweren.
Was man aber mit gutem Recht kritisieren kann, ist die Kommunikation der Bundesregierung. Da hat man mittlerweile einen notorisch patzigen Jens Spahn, der Fehler bei sich letztlich überhaupt nicht erkennen kann, einen notorisch blassen Peter Altmaier, einen notorisch verschwenderischen wie schlumpfig grinsenden Olaf Scholz, da wird der AstraZeneca-Impfstoff bei aller schon vorliegenden Impfskepsis in Deutschland äußerst unglücklich eingeführt, dann während des Impfstopps wegen einer winzigen Nebenwirkungen nicht einmal mehr eine freiwillige Impfung zugelassen und abschließend verheddert man sich noch in Korruption und Impfdrängelei. Das Bild, das die Politik abgibt, ist nicht das einer Führung. Sondern – und das kennt man aus Deutschland gut – das einer Verwaltung, mit einer bemerkenswert führungsschwachen Kanzlerin. Bereits in der vorangegangenen Krise hatte man den Eindruck, dass der Staat im Wesentlichen nicht handlungsfähig ist und die Dinge eher geschehen lässt und reagiert, statt agiert. A leader is someone, who knows the way, goes the way and shows the way, lautet eine schöne Formel und macht den Unterschied zum status quo deutlich sichtbar.
Während die USA mit der Operation Warp Speed, für die es bezeichnenderweise nicht einmal einen Wikipedia-Eintrag in deutscher Sprachfassung gibt, alle Hebel in Bewegung gesetzt haben, um ohne Rücksicht auf Kosten möglichst erfolgreich zu sein, hat Jens Spahn sogar selbst zugegeben, dass es nicht an fehlenden Impfstoffbestellungen oder fehlenden Verträgen liegt, sondern an fehlenden Produktionskapazitäten der Hersteller. Dem schließen wir uns an. Während nun aber die Amerikaner alles dafür getan haben, selbige sicherzustellen, gab es in Deutschland nichts dergleichen zu vernehmen, dass man nun – wie China in Wuhan beispielsweise mit Notkrankenhäusern innerhalb von acht Tagen – Notfabriken baut. Dabei hatten wir sicherlich genug brachliegende Industrieimmobilien und ausreichend qualifiziertes Personal – und mit neun Monaten zwischen Erst-„Lockdown“ und Impfstoffzulassung bei allem Respekt auch: ausreichend Zeit.
Zwar wurde die Erforschung des Impfstoffs von Biontech in dreistelliger Millionenhöhe gefördert, nicht aber dessen Produktion. Die Unternehmen in den USA hingegen, die sich weigerten, Baukapazitäten zur Verfügung zu stellen, wurden auf der Basis eines Gesetzes aus der Zeit des Koreakriegs gezwungen, beim Fabrikbau zu helfen. Gut sichtbar ist die komplett andere Mentalität ja auch am Bau der Tesla-Gigafactory bei Berlin. Deutschland ist regelmäßig überwältig von dort dem demonstrierten Willen, die Dinge einfach schnell über die Bühne zu bringen. Eines der größten Hindernisse bei der deutschen Bewältigung der Pandemie ist die eklatante Mangel an Vorausschau und Vorausplanung und die Tatsache, dass man scheinbar permanent unvorbereitet getroffen wird. Während man in Großbritannien bereits heute die Drittimpfung plant und Biden sein Ziel, in seinen ersten 100 Tagen 100 Millionen Impfungen durchzuführen nun sogar verdoppeln konnte. Während es anderswo scheinbar immer besser als erwartet läuft, gibt es bei uns beständig schlechte Nachrichten. In Großbritannien gibt es Reisefreiheit ab Mai bzw. Juni, in den USA sind – sicherlich mit diskutablen Impfstoff-Exportsperren – bis Ende Mai voraussichtlich alle geimpft. In Deutschland ist jede Aussage kurze Zeit später Makulatur.
Operation Warp Speed wurde direkt im April 2020 eingerichtet – Deutschland sucht bis heute seinesgleichen. Operation Warp Speed kostete 18 Milliarden US-Dollar. Hätte Deutschland das Geld gehabt? Aber sicher. Die von praktisch allen Seiten als gesamtwirtschaftlich völlig wirkungs- und sinnlos erkannte Mehrwertsteuersenkung hat Deutschland 20 Milliarden Euro gekostet. Was ist aber von einem Land noch an schnell verfügbarer Exekutivkraft zu erwarten, in dem Großprojekte mittlerweile fast schon Mehrgenerationenprojekte sind? Der Bau des Flughafen Berlins dauerte bis zur Eröffnung 24 Jahre, und ist damit übrigens nur unwesentlich länger, als der Bau des Flughafens München (23 Jahre). Etwas überspitzt formuliert: für eine Halle und eine Teerstraße. Stuttgart 21 ist von der Projektvorstellung an gerechnet mittlerweile 27 Jahre alt.
Und es ist ja nicht nur die exekutive Bräsigkeit Deutschlands. Es ist auch der notorisch fehlende wirtschaftliche Sachverstand, der dazu führt, dass wir eben nicht mehr der Effizienzweltmeister sind, für den wir uns gerne halten. Denn während in den USA der Staat die Risiken der Impfstoffproduktion durch z.B. Abnahmegarantien übernommen hat, müssen die produzierenden Unternehmen und vor allem deren Zulieferer hierzulande voll selbst ins Risiko gehen. Wer soll das bei diesen enormen Risiken tun, in einer Krise, in der zu Beginn noch ubiquitär zu hören war, dass ein Impfstoff mindestens 1,5 Jahre braucht – wenn es schnell geht -, wenn denn überhaupt einer gefunden wird – Stichwort HIV.
Dem Magazin Kontraste lag ein Biontech-Papier vor, das Ende 2020 detailliert auflistete, bei welchen Punkten der Staat unterstützen könnte. Dies führt u.a. Fachpersonal auf, aber auch die Unterstützung bei der Lipidproduktion oder bei Verpackungsmaterial für den Impfstoff. Wir haben von einer konkret auf die Bedürfnisse von Biontech zugeschnittenen Hilfe in diesen Bereichen nichts gelesen und gehen deshalb davon aus, dass bis heute nichts passiert ist. Erst am 9. Februar 2021 fragt Peter Altmaier bei den Impfstoffherstellern schriftlich nach, wie die Impfstoffproduktion denn beschleunigt werden könnte. Moderna und Novavax wurden bei dieser Anfrage vergessen. Aber gut. Peter Altmaier hat beim Wirtschaftsgipfel ja auch die Wirtschaft aufgefordert, doch einfach mal selbst Vorschläge zu machen, anstatt zu führen. Eine Impfstoff-„Task-Force“ führt Deutschland – Monate nach anderen Ländern, fast ein Jahr nach Großbritannien – Ende Februar 2021 ein. In den USA führt ein Vier-Sterne-General die Operation Warp Speed. In Deutschland führt die „Task Force“: Christoph Krupp, vorher bei der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, dort u.a. zuständig für Facility Management. Dass Deutschland die initiale Phase der Krise gut gemanagt haben mag, nun aber im Vergleich dramatisch zurückfällt, fällt mittlerweile auch im Ausland auf und sägt hart an deutschen Effizienzmythos, der sich hartnäckig in der Welt hält.
Überraschend kommen gerade die hohen Kosten dieser Krise bei gleichzeitig nur homöopathischem Erfolg bei der Pandemiebekämpfung nicht. Es fehlt an Management-Kompetenz. Politik besteht wie einleitend dargestellt in Abwägung unter Unsicherheit – dafür muss man aber auch die Voraussetzungen mitbringen. Es liegt in der Verantwortung der Bundeskanzlerin, wen sie in ihr Kabinett holt und wen sie dort belässt. Zunächst könnte man einmal fragen, was den Gesundheitsminister im Frühjahr des letzten Jahres veranlasst hat, überhaupt ein „open-house“-Verfahren für die staatlich orchestrierte Maskenbeschaffung durchzuführen, der zum wohl größten Goldrausch aller Zeiten für Maskenhersteller führte. War dies doch eine Zeit, in der ohnehin jeder von Zuhause arbeitete, der dies konnte und eine Zeit, in der viele Wirtschaftszweige gnadenlos heruntergefahren wurden. Der Druck nach Masken war also fraglos groß, er war aber doch nicht so groß, dass man im Milliardenmaßstab zu jedem Preis und der Menge nach unbegrenzt zugreifen musste. So wurden Masken zum Teil zu einem Stückpreis von 10 Euro gekauft, die zum Teil noch in fragwürdiger Qualität geliefert wurden. Das ist auch wirklich nichts, was man „nur hinterher“ wissen kann, wenn man immer klüger ist, Stichwort Totschlagargument. Dem Markt wird heutzutage – wie dem Staat ja übrigens auch – gerne pauschal „Versagen“ vorgeworfen. Der Markt hätte die Masken für 10 Euro nicht gekauft, das ist richtig. Weil das ein absolut irrsinniger Preis ist. Solche Deals kann nur der Staat abschließen. Deals, für die er laut Spiegel zeitweise 50 (!) Juristen braucht, allein um den Scherbenhaufen wieder aufzukehren.
Nun waren die Masken beschafft, sie mussten noch verteilt werden. Im Herbst letzten Jahres wurde beschlossen, besonders Schutzwürdigen ein paar FFP2-Masken über Apotheken zur Verfügung zu stellen. Und hier wird es nun endlich einmal eindeutig ganz persönlich für Spahn. Trotz aller berechtigt tiefroten Lampen hat Spahn im Alleingang und gegen den Rat seines Hauses beschlossen, Masken über Apotheken auszugeben und den Apotheken die Maskenkäufe zu vergüten. Aber nicht mit dem Einkaufspreis, der mittlerweile weniger als 1 Euro für den FFP2-Standard beträgt, sondern mit einer Mondvergütung von 6 Euro pro Maske (!). Wie Spahn überhaupt auf die Idee kommt, die Apotheker für die Maskenausgabe vergüten zu müssen, konnten wir nicht nachvollziehen. Denn diese haben doch Zugang zum Großhandel, der natürlich auch Masken im Sortiment haben sollte.
Wie das BMG letztendlich auf die Summe von sechs Euro inklusive Mehrwertsteuer kam, geht aus den Unterlagen nicht hervor. Es findet sich aber in den Unterlagen des Ministeriums eine „Preisprobenstichanalyse“ [sic!, andere Medien schreiben von Preisstichprobenanalyse], erstellt von den Wirtschaftsprüfern EY, die das BMG bereits in der Beschaffung von Schutzausrüstung berieten. In den Unterlagen des Ministeriums befinden sich zwei Präsentationen, in denen EY-Berater die Preise verschiedener Maskentypen zu bestimm[t]en Stichtagen aufbereitet haben. Die Quellen: Preisvergleichsportale wie etwa Idealo.de, geizhals.de, und restposten.de sowie Presseartikel. Auf durchschnittlich 4,29 Euro kamen die Berater Anfang Oktober und auf 1,22 im Großhandel in einer weiteren Preisermittlung vom 25. November.
Die Differenz zwischen dem erhobenen möglichen Einkaufspreis von 1,22 und dem Erstattungspreis von 6 Euro erklärt das BMG damit, dass man die 4,29 Euro zu Grunde gelegt und dann noch Arbeitskosten der Apotheker pauschal hinzugefügt habe. EY äußert sich auf Anfrage „grundsätzlich nicht zu Beratungsmandaten“. Ebenfalls am 25. November nahm Spahn an einer Videokonferenz unter anderem mit dem Apothekerverband teil. Schon damals soll der Preis von sechs Euro manchen sehr hoch vorgekommen sein. Ein Teilnehmer der Videokonferenz soll die Runde darauf aufmerksam gemacht haben, dass er selbst gerade fünf FFP2-Masken bei einer Drogeriemarktkette für 9,99 Euro gekauft hatte.
Doch im Ministerium hielt man an den sechs Euro pro Maske für die Apotheker fest. Tatsächlich planten Discounter im Dezember den Verkauf zertifizierter FFP2-Masken für einen Euro pro Stück. Die Drogeriekette dm etwa will dem Gesundheitsministerium sogar angeboten haben, als Abgabestelle für die Masken zu dienen, so dm-Chef Christoph Werner gegenüber WDR, NDR, und SZ. Statt sechs Euro pro Maske hätte der Bund dafür nur etwas mehr als einen Euro bezahlen müssen, versichert der Drogerie-Boss. Ob sein Angebot eingegangen ist, will das BMG nicht bestätigen. Auch die Einkaufsgemeinschaft Clinicpartner, die für 500 Krankenhäuser und Pflegeheime Material beschafft, gibt an, im Oktober nur noch etwa 1,20 Euro pro FFP2-Maske bezahlt zu haben. Seit Sommer habe man dort keinen Masken-Engpass mehr wahrgenommen. Doch das Ministerium hatte offenbar weder die Abgabe über den Einzelhandel noch über große Sammelbestellungen geprüft.
„Dumm und dämlich verdient“
Wir empfehlen, den gesamten Tagesschau-Artikel zu lesen – es lohnt sich. Diese Aktion ist so offensichtlich so gigantisch und so hirnrissig teuer, dass man als Betrachter nur noch fassungslos zurück bleibt. Die Apotheker selbst sagen: „Wir haben uns dumm und dämlich verdient.“ Der nächste staatlich garantierte Goldrausch. Hier liegt wirklich einmal echtes, blankes, reines Versagen vor, auf ganzer Linie. Ein Versagen, das man in diesem konkreten Einzelfall dankenswerterweise auch einmal konkret persönlich zuordnen kann. In normalen Zeiten hätte man für so eine Aktion vermutlich völlig zu Recht seinen Posten räumen müssen. Hier geht es um Kosten von über 2 Milliarden Euro. Der Bund der Steuerzahler fürchtet fast 3 Milliarden.
Der Tragödie vorerst letzter Akt war nun die Öffnung via Selbst-Schnelltests, solange die Herdenimmunität durch Impfung nicht hergestellt wird. Zunächst ist festzuhalten, dass es diese Tests dem Grunde nach seit April 2020 (!) gibt. Diese werden in Deutschland seit Oktober 2020 auch im Gesundheitsbereich eingesetzt. Es hat fast ein Jahr gedauert, bis die Schnelltests nun auch für den Laiengebrauch zugelassen wurden – obwohl dies der offensichtliche (und einzige) Weg ist, auch bei einer nichtdurchgeimpften Gesellschaft Öffnungsschritte Richtung Normalität zu gehen. Offenbar hat man Zeit in Deutschland. Während beispielsweise Österreich jede Woche 25 % seiner Bevölkerung testet und deshalb ab Februar erste Öffnungsschritte gehen konnte, ohne dass im März 2021 die Positivenquote wesentlich anstieg.
Jetzt haben wir die Selbst-Schnelltests. Aber sie bringen in der Realität nichts, jedenfalls nicht für den großen Teil der Bevölkerung. Nur den Schülern, die wohl regelmäßig getestet werden sollen. Der große Rest aber hat ein Recht auf zwei professionell durchgeführte Schnelltests die Woche in der Apotheke, den viele Apotheken mangels Räumlichkeiten oder mangels Personal oder einfach mangels Tests gar nicht anbieten. Mit einem Selbst-Schnelltest dagegen kann man aber mangels Konzept bis heute nichts anfangen. Kein Restaurant, keine Seilbahn, kein Fitnessstudio, kein Hotel, keine Grenzüberquerung, kein Urlaub. Wir haben keinen Impfpass oder dergleichen, obwohl bald fast 10 Millionen Deutsche mindestens eine Impfung erhalten haben. Die Politik möchte für die Gruppe der Genesenen und Geimpften die verordneten Grundrechtseinschränkungen (bis hin zum demokratischen Affront, dies „Privilegien“ zu nennen) nicht aufheben, weil man nicht wüsste, ob diese Gruppe nicht weiterhin ansteckend ist. Man tut aber auch nichts – jedenfalls lesen wir nichts davon -, um dies mal herauszufinden. Zwischenzeitlich kamen aus Israel schon Meldungen, wonach Biontech-Geimpfte im Wesentlichen nicht mehr ansteckend sein sollen. Dies hat aber keine umfassende Grundrechtsrückgewähr in Deutschland für Geimpfte zur Folge gehabt. Wir wissen nicht, worauf hierzulande nun noch gewartet werden soll. Und warum gibt es mit Israel überhaupt diese Impf-Kooperation im Gegenzug für Patientendaten? Warum können die das und Deutschland kann es mal wieder nicht? Nicht einmal die Diskussion hat es dazu gegeben.
Wir haben eine Corona-App, deren einzige wirkliche Funktion Datenschutz ist und die uns lächerlich teure 70 Millionen Euro kostet. Auf der ganzen Welt dürfen Hausärzte mitimpfen, nur in Deutschland wollte man wieder besonders klug sein und hat sich mit der Entscheidung gegen die Nutzung bestehender Infrastruktur weitere Ineffizienzen geschaffen. Fast gewönne man den Eindruck, die Handelnden hätte ihre Freude daran, Verantwortlichkeiten von sich auf den politischen Gegner, den Ethikrat, „die“ Wissenschaftler etc. zu schieben und hielten es für besser, zu diskutieren, als zu regieren. Das oft vorgebrachte Gegenargument von politischer Seite lautet, dass es für diese Krise keine Blaupause gibt. Das ist richtig. Aber Politiker sollten nun mal nicht darauf angewiesen sein, nach Schablone zu regieren, sondern Regieren ist wie bereits dargestellt naturgemäß Handeln unter Unsicherheit und unter Abwägung von Zielkonflikten. Damit kann man sich nicht rausreden und wer feststellt, dass er sich zu solcherlei Handeln nicht befähigt fühlt, sollte vielleicht noch einmal intensiver darüber nachdenken, ob er sich die Volksvertretung, die sein Beruf ist, wirklich zutrauen sollte.
Und so bleiben wir unabsehbar im ewigen „Lockdown“ – der dem Begriff nach in der Realität ja gar nicht existiert. Vielmehr ist der sogenannte „Lockdown“ neben dem Beweis, dass Medienvertreter und Politiker nicht besonders beweglich in ihrer eigenen Sprache sind, im Wesentlichen eine behördlich angeordnete Schließung der Schulen und des Einzelhandels. Einen richtigen Lockdown sieht man bestenfalls im totalitär regierten China, wo Stadtviertel schon mal eben tatsächlich abgeriegelt werden und Berichten zufolge sogar Türen verschweißt werden. So hat sich in Teilen der Medien auch der zwar treffendere, aber immer noch lächerlich anglizismisch anmutende Begriff des „Shutdowns“ durchgesetzt.
Schon deshalb, andrer Gründe zu geschweigen, lese ich lieber in jeder anderen Sprache, als Deutsch […]; während im Deutschen ich jeden Augenblick gestört werde durch die Naseweisheit des Schreibers, der seine grammatischen und orthographischen Grillen und knolligen Einfälle durchsetzen will; wobei die sich frech spreizende Narrheit mich anwidert. Es ist wahrlich eine rechte Pein, eine schöne, alte, klassische Schriften besitzende Sprache von Ignoranten und Eseln mißhandeln zu sehn. […] Keiner, der eine Spur von Selbstständigkeit zeigte, indem er sich dem Unwesen widersetzte: sondern sobald irgend ein Buchhändlerlöhnling einen neuen Sprachschnitzer in die Welt gesetzt hat, wird dieser zum allgemeinen und stehenden Sprachgebrauch.
Der Chef des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Gabriel Felbermayr, kritisiert die Teststrategie in der Corona-Pandemie scharf:
„Was mich persönlich sehr irritiert, ist, dass beim Bekämpfen der Pandemie nicht auf Faktenbasis operiert wird“, sagt Felbermayr der Deutschen Presse-Agentur. Es sei immer noch unklar, wo sich Menschen wirklich infizierten. „Und darum sind wir jetzt wieder in einem sehr pauschalen Lockdown – ganz ähnlich wie in der ersten Welle.“ Das sei nur im Frühjahr verständlich gewesen, weil es 100 Jahre lang keine Pandemie gegeben habe.
Dies geht schon damit los, dass die vom RKI vermeldeten Todeszahlen in der Regel vier Wochen alt sind. In den Medien hat wohl mittlerweile jeder die Bilder gesehen, wonach Gesundheitsämter ihre Fallzahlen an das RKI faxen, wo dann jemand sitzt, der die Faxe abtippt. Eine breite Diskussion dazu haben wir nicht erlebt. Denn auf dieser Basis der Todesfallzahlen werden ja Maßnahmen beschlossen. Aber auch allgemein bekommt man selbst viele Monate nach Ausbruch der Pandemie allein das Meldewesen schon nicht auf die Reihe:
Das Ziel, dass bis Ende Februar alle 375 Gesundheitsämter mit einer einheitlichen Software arbeiten, ist kaum noch zu erreichen. Damit ist es bis auf absehbare Zeit weiter unmöglich, bei der Kontaktverfolgung über Landkreisgrenzen hinweg einheitlich – und digital – vorzugehen.
Coronavirus-Liveticker vom 21.02.2021
Hierüber hatte sich Jens Spahn auf seiner Afrikareise im Oktober 2019 in Nigeria informiert – wo die Software bereits läuft. Nigeria. Nigeria!
Dem Bericht zufolge haben 239 Gesundheitsämter die Software inzwischen eingerichtet. Aber nur 84 arbeiten bislang auch damit. 130 Ämter haben noch nicht einmal die notwendigen Verträge für die kostenlose Übernahme der Software abgeschlossen. Manche Kommunen wollen das System namens Sormas auch gar nicht einsetzen, entweder weil sie eigene Lösungen bevorzugen, oder weil sie so überlastet sind, dass sie keine Zeit haben die Software zu installieren und die Mitarbeiter zu schulen. Zudem sei die Kompatibilität mit anderen Programmen ein Problem, heißt es in der „Welt am Sonntag“.
Kurzum: Deutschland kommt nicht weg von seinem operativen Entwicklungslandniveau. Die deutsche Bürokratie steht sich permanent selbst im Weg. In Niedersachsen sah sich das Land außerstande, Impfterminlisten für über 80-Jährige zu organisieren. Man hat ersatzweise ernsthaft versucht, anhand des Vornamens eine Einschätzung zu treffen, ob jemand über 80 Jahre alt ist oder nicht.
Überraschend erscheint dem geneigten Beobachter, dass bei allem Unvermögen absehbare Dinge abzusehen, nun ausgerechnet beim Thema Mallorca-Urlaub vorausgesehen wurde, dass sich gleich ein neuer Infektions-„Hot Spot“ entwickeln soll. Dies begründet sinngemäß damit: weil tausende Urlauber angeblich aufeinander hocken. Es ist haarsträubend zu sehen, welchen Eindruck Politiker offenbar von deutschen Urlaubern haben und unter welchem Generalverdacht diese stehen. Nun ist mit dem Schlagwort Mallorca im herkömmlichen Sinne sicherlich nicht der kulturell anspruchsvollste Individualurlaub verbunden. Dennoch ist Mallorca sicherlich auch nicht zwingend bei allen nur Ballermann, der ohnehin geschlossen ist und zum Baden sind die Temperaturen auch eher etwas für einzelne Unerschrockene. An welchem Ort konkret sich nun „Tausende“ treffen sollen, wie es vereinzelt zu hören war, die sich dann auch noch alle gegenseitig infizieren würden, können wir nicht nachvollziehen. Denn natürlich gibt es auch auf Mallorca – und seinem Flughafen – Antiinfektionskonzepte, Abstands- und Maskenregeln und man dürfte sich tendenziell auch den ganzen Tag an der frischen Luft bewegen. Das Infektionsrisiko ist folglich sicherlich nicht höher, als für den deutschen Arbeitnehmer, der mangels gesetzlicher Home-Office-Verpflichtung (weil man den Arbeitgeberverbänden nicht widerstehen konnte) auch in diesen Tagen morgens mit der S-Bahn zu seiner schlecht belüfteten Arbeitsstätte fahren muss. Hinzu kommt der allgemeine Makel der Inzidenzkennziffer, dass eine Inzidenz von 20-30 aufgrund der allgemein gestiegenen Testzahl heute etwas ganz anderes ist, als eine Inzidenz von 20-30 vor einem Jahr. Man könnte auch sagen: es gibt derzeit kaum etwas Sichereres, als sich auf Mallorca aufzuhalten. Sich also vollkommen anlasslos und willkürlich von der selbstgewählten und wohl bewährten Risikogebietsdefinition in einem Anflug von massivem Populismus zu lösen, hat einen Hauch von der vor einigen Jahren mal beklagten Herrschaft des Unrechts.
Es steckt eine gehörige Portion Opportunismus und Populismus in den genannten politischen Entscheidungen. Denn dass sich das Infektionsgeschehen schlagartig und explosionsartig wieder ausdehnen wird, sobald die allergrößten Infektionsherde Schulen und Kitas geöffnet werden, war im Gegensatz zur Mallorca-Fiktion tatsächlich absehbar. Aus Sicht der Wirtschaft – nicht natürlich aus Sicht der Eltern – wäre eine Schulöffnung gerade das am leichtesten vermeidbare und wirkungsvollste Szenario gewesen, als nun abermals den Rest der Gesellschaft in Kollektivhaft zu nehmen und ausbaden zu lassen. Auch dies ein Kennzeichen der gegenwärtigen Politik, dass die Maßnahmen offensichtlich nicht nach dem Wirkungsgrad ausgewählt werden. Vielmehr wird ohne Rücksicht auf Auswirkungen auf das Infektionsgeschehen das getan, wonach das Volk gerade am lautesten kräht, Stichwort Friseure.
Ein weiteres ist zu beachten: ein besorgniserregender, einleitend schon einmal angedeuteter Unilateralismus, der von deutscher Seite gerne anderen Erdteilen vorgeworfen wird, hat Einzug gehalten. Nicht allein, dass Deutsche, die sich als Europäer sehen, nun einmal in den letzten Jahren von ihren primärrechtlichen Grundfreiheiten Gebrauch gemacht haben und im Ausland arbeiten oder (Wohn-)Eigentum haben. Man kann das Eigentum im Ausland nun als Luxusproblem betrachten. Oder aber man nimmt die politisch eigentlich gewünschte Europäisierung ernst und erkennt an, dass die entsprechenden Personen nun von ihren Grundfreiheiten nicht nur im Inland, sondern de facto auch im Ausland abgeschnitten sind. Die entsprechende rein deutsche Krisenpolitik ist schon aufgrund dessen eigentlich im Kern nichteuropäisch.
Der Einzug einer weiteren Föderalismusebene scheint der Krisenbekämpfung nun nicht mehr zwingend zuträglich zu sein. Dennoch: auf der europäischen Ebene ist wenig abgestimmt und die Grenzen sind seit Monaten praktisch zu. Wer Immobilieneigentum oder bspw. auch schwimmendes Eigentum hat, der wird wissen, dass das von den materiellen Dingen her nun einmal so nicht vorgesehen ist, dass man sie monatelang nicht aufsuchen kann, um Verfall oder Schäden zu begutachten. De facto wird man der Nutzungskomponente seines Eigentumsrecht zum Wohle der Allgemeinheit enteignet, was nach Artikel 14 des Grundgesetzes entschädigungspflichtig wäre. Was bleibt, ist die Feststellung: neben Arbeitgebern, insbesondere auch Nicht-Konzern-Arbeitgebern, haben auch die Eigentümer hierzulande einen schweren Stand. Und die schönen Sonntagsreden von „Europa“ und „mehr Europa“ haben einen eingeschränkten Wert, wenn es hart auf hart kommt. Auch dies eine unschöne Erinnerung an 2015 ff.
Zu allem Überfluss berichtete die Welt am Sonntag in der Ausgabe vom 7. Februar 2021 darüber, dass das Innenministerium unter Leitung von Horst Seehofer im vergangenen Jahr ein „Schockgutachten“ in Auftrag gegeben hat, um die Verlängerung des Lockdowns übern Ostern 2020 hinaus zu rechtfertigen. Darin sollte nicht streng wissenschaftlich argumentiert werden, sondern eine „gewünschte Schockwirkung“ erreicht werden – gelenkte Wissenschaft. Dieses Gutachten weist in einem Worst-Case-Szenario eine Todeszahl von mehr als einer Million Menschen aus. Die Verantwortlichen waren der Auffassung, dass das von Markus Söder konstatierte Ohnmachtsgefühl durch den „Eindruck eines starken staatlichen Interventionismus in Schach gehalten“ werden müsste. Man wollte Verständnis für die Verlängerung der Einschränkungen erreichen, durch Bilder in den Köpfen der Menschen wie „Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause.“ Das Innenministerium gibt sich hiermit ersichtlich größte Mühe, dem Spektrum der sogenannten Corona-Gegner bis -Leugner Futter zu geben. Klar, Politik und ihre Vermittlung unterliegt eigenen Mechanismen. Die natürlich staatlicherseits auf Schärfste kritisiert worden wären, wenn diese in einem privatwirtschaftlichen Unternehmen vorliegen würden. Heiligt der Zweck die Mittel? Aber diese Aktion halten wir für ebenfalls sehr bedenklich, bevormundend und vor allem für grundlegend antifreiheitlich.
Das ist abschließend das eigentliche politische Versagen dieser Krise. Die Maßnahmen sind immer gnadenlos pauschal, gnadenlos undifferenziert, unfassbar unkreativ, sie waren es vor einem Jahr und sie sind es beinahe unterschiedslos noch heute. Das zentrale Problem der Politik ist, dass sie es auch nach einem Jahr Krise nicht vermag, sich die nötigen Fakten zu besorgen, auf deren Grundlage sie intelligente, nachvollziehbar begründete und flexible Lösungen aufsetzen könnte. Bis heute wird im Wesentlichen im Dunklen agiert. Man weiß nicht, wer sich ansteckt, wo sich jemand ansteckt, warum sich jemand ansteckt und tut aber auch nichts dafür, sich diese Informationen zu besorgen. Lediglich bekannt ist, dass sich jemand ansteckt. Aufgrund der Lust am Pauschalen kann es auch nicht möglich sein, dass wie aktuell im Saarland der Modellversuch einer Öffnung gestartet wird, da sich immer Gegenargumente finden lassen, die dann das Verbot von allem höher gewichten, als die Ermöglichung kleiner Schritte nach vorne. Eine Güterabwägung mag das Recht auf Leben für die Zeit der Pandemie höher gewichten. Allerdings wird man auch mal Schritte Richtung Pandemieende gehen müssen, um jemals wieder aus dem Zwangsmaßnahmenkorsett herauszukommen und die Gleichrangigkeit der Grundrechte wiederherzustellen.
Die handelnden Mitglieder der Exekutive werden sich am Ende dieser Krise politisch fragen lassen müssen, ob sie alles dafür getan haben, die Krise möglichst kurz und möglichst wenig teuer gehalten zu haben. Warum gab es keine deutsche Operation Warp Speed? Warum ist die Bundeswehr nicht voll mobilisiert worden? Warum gibt es immer noch kein funktionierendes Meldewesen zur Feststellung des Infektionsgeschehens? Warum verharrt man im Prinzip Totalverbot und kommt dadurch nie zu einer risikoadäquaten Öffnung, beispielsweise von jeder Art von Freilufteinrichtungen?
Was diese Krise zutage gefördert hat, ist die Einsicht, dass Deutschland dann nur Entwicklungslandniveau hat, wenn es um die Anpassung an veränderte Gegebenheiten geht. Dies alles unter einer führungsschwachen Kanzlerin, einem führungsschwachen wie glücklosen Gesundheitsminister, einem verschuldungsmissbrauchenden Finanzminister, einem fragwürdigen Innenminister und einem nichtvorhandenen Wirtschaftsminister. Und nun steht auch noch der Wahlkampf bevor. Nachdem die Bankenrettung in der Finanzkrise mit 50 Milliarden Euro Verlust (zzgl. Verschwendungen wie bspw. die Abwrackprämie im damaligen Konjunkturpaket) zu Buche schlug, sich die Flüchtlingskrise mit weiteren ca. 50 Milliarden Euro anschloss folgt nun die nächste – aller Voraussicht nach mit mindestens ca. 500 Milliarden Euro noch viel teurere – Krise, die sich vor allem durch Missmanagement und mangelnde Proaktivität auszeichnet. Und dennoch: wogegen wir uns ausdrücklich verwahren, ist der pauschale Vorwurf des „Staatsversagens“. Bei allem, was die Exekutive nicht zustande zu bringen vermochte, funktioniert der Staat in seinem Kern. Es ist bekanntlich durchaus nicht so, dass Deutschland keine PS hat. Aber sie müssen endlich mal auf die Straße gebracht werden. Die positive Perspektive liefert eine aus England stammende Redensart:
Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Morgen nicht mehr weit.
Hier noch einmal der Link zum ersten Artikel.
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Danke für deinen Beitrag. Sehr gut 👍
Danke für den freundlichen Kommentar 🙂
„Der Bau des Flughafen Berlins dauerte bis zur Eröffnung 24 Jahre, und ist damit übrigens nur unwesentlich länger, als der Bau des Flughafens München (23 Jahre). Etwas überspitzt formuliert: für eine Halle und eine Teerstraße.“
Alles prima, vielleicht muss das so lange dauern, weil der Einsatz von gesundheitsschädlichem Teer als Baustoff für den öffentlichen Straßenbau in Deutschland nicht mehr erlaubt ist 😉
Unter Gesichtspunkt des Arbeits-, Boden- und Gewässerschutzes kommt stattdessen Bitumen als Bindemittel zur Anwendung.
Hi Achim, Danke für die Aufklärung 😀