Zum Inhalt springen

Über das metaphysische Bedürfnis in Finanzangelegenheiten (Teil II/II)

Leider nicht doch so kurzfristig wie erhofft kommt nun heute unser Anschlussartikel an unseren ersten Artikel zum Aufstieg der Verirrten und des Schwurblertums in Deutschland, übertragen auf das Gebiet der Finanzen.

Anzeige

Sogenannte Querdenker und Verschwörungstheorien gründen wie im letzten Artikel beschrieben ganz wesentlich auf problematisch zunehmendem, falsch verstandenen Individualismus und schwindendem Gemeinsinn als notwendigen Bedingungen, was dann, vermengt mit einem Bedürfnis nach Welterklärung durch abseitige Ansichten, hinreicht, um die intellektuelle Katastrophe anzurühren, in der sich ein Teil der Gesellschaft befindet, qua Ansammlung mittlerweile mit Belästigungswirkung für den Rest der Gesellschaft. Fast ein Drittel der Deutschen vertreten wissenschaftsfeindliche Haltungen. Die Ablehnung des Modernen, Freiheitlichen und Wissenschaftlichen zeichnete sich flächig bereits im 19. Jahrhundert ab, als Deutschland in jeder Hinsicht die verspätete Nation war.

Das zunehmende – im Grundsatz eigentlich auch zu begrüßende – Bedürfnis, Dinge selbst und unabhängig zu machen, führte dazu, dass ein doch beachtlicher Teil (wie in der Einschätzung von virologischen, medizinischen, gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen) übersehen hat, wo seine individuelle intellektuelle Grenzziehung verläuft. Solcherlei Fehleinschätzungen finden natürlich auch im Ökonomischen statt, auch in der privaten Geldanlage. Genau damit wollen wir uns heute beschäftigen.

Beginnen wir mit einem beliebten Thema: das Zentralbank-Bashing. Es ist eine gewisse Mode geworden, der EZB für alles und jeden die Schuld zu geben. Dafür z.B., dass es „keine Zinsen mehr gibt„. Dabei gab es auch vor der Niedrigzinsphase auf Einlagen nie reale Renditen:

Anzeige

Bundesbank Monatsbericht August 2020, S. 42

Das gilt sogar für die Zeit vor der Euro-Einführung:

Neue Narrative über die Geldpolitik: das Gespenst der Inflation, von Isabel Schnabel, 13. September 2021, ecb.europa.eu

D.h. der Satz, wegen der EZB gäbe es keine Zinsen hat zum Inhalt: ja, statt real -0,1 % p.a. zwischen 1975 bis 1998 gibt es seither knapp -0,2 % real. Ist das ein Grund, sich aufzuregen? Natürlich denkt in Deutschland niemand in realen Renditen – der Strom kommt hierzulande ja auch aus der Steckdose. Das geht so weit, dass ehemalige Verfassungsrichter sogar ein kurioses Grundrecht bzw. einen Rechtsanspruch auf Zinsen herleiten – was dann ja wohl schon die letzten 50 Jahre nicht eingehalten würde, unabhängig von der EZB. Dass das ganze etwas komplizierter ist, sieht man hier:

Warum die Zinsen niedrig sind, Gerald Braunberger in faz.net, 03.09.2014

In den 70er Jahren und etwa ab der Finanzkrise gab es im Durchschnitt ebenfalls im Wesentlichen keine realen Renditen auf langfristige Geldüberlassungen. Statt zu jammern, dass „es keine Zinsen mehr gibt“, wären das eigentlich die Fragen, die es zu klären gilt: warum war die Rendite in den 70ern im Schnitt bei Null? Warum gab es einen starken Realrenditenanstieg in den 80ern? Warum gibt es seit den 80ern einen langfristigen Trend nach unten wieder Richtung Null?

Nie wieder Zinsen, davon war bisher natürlich auch der stets maliziös lächelnde Marc Friedrich überzeugt. Marc Friedrich bringt als geldpolitische Fachqualifikation ein Fachhochschulstudium der Betriebswirtschaftslehre der Fachhochschule Aalen mit – immerhin nicht Youtube-University! – und stellt sich unbedarften Journalisten seitdem als „Ökonom“ vor. Die dahinter regelmäßig kein Fragezeichen setzen.

Anzeige

Marc Friedrich ist sich sicher. Es wird in Euroland nie wieder steigende Zinsen geben.

„Nie wieder steigende Zinsen“, finanzmarktwelt.de, 15.07.2019

Die Propheten formulieren gern in Superlativen. „Die Zinsen werden nie wieder steigen„, sagen Friedrich und Weik. Seit 2008 gebe es „eine historische Zeitenwende und zwar die größte seit 100 Jahren“. Honorarberater Braun findet solche Sätze geradezu obszön: „Wissen die denn nicht, was in den 1940er-Jahren in Deutschland los war?“

sueddeutsche.de, 27.12.2019

Die Druckerpressen werden so viel Geld in das System reinpumpen wie noch niemals zuvor. Wir gehen von Billionen aus und die Zinsen werden weiter sinken. Für die USA erwarten wir dieses Jahr schon die 0 Prozent und danach Negativzinsen und für die Eurozone nicht unerhebliche Negativzinsen.

Experten sicher: Zinsen sinken noch viel tiefer, aber das wird die Probleme nicht lösen, finanzen100.de, 20.03.2020

Heute zeige ich euch auf, warum die FED die Zinsen nicht nachhaltig erhöhen kann […] Zuviel GELD im System! FED in der Sackgasse, Marc Friedrich auf youtube, 22.06.2021

Im bestehenden System werden Anleihenkäufe nicht zurückgefahren werden und die Zinsen auch nicht mehr erhöht werden können.

Marc Friedrich: «Den Euro in der heutigen Form wird es 2023 nicht mehr geben», cash.ch, 15.09.2021

Aber ich glaube, dass wir auch neue Rekordhochs sehen werden, weil die Fed die Zinswende im Laufe des Jahres zurückdrehen muss”, sagt Marc Friedrich.

Marc Friedrich: Tops und Flops – die größten Chancen bei Aktien, Bitcoin, Gold und Silber, inside-wirtschaft.de, 11.02.2022

Dummerweise … passierte dann das:

Der EZB-Rat beschloss auf seiner geldpolitischen Sitzung – die dieses Mal in Amsterdam stattfand – die Anleihekäufe zum Ende dieses Monats einzustellen. Bei der nächsten Sitzung am 21.Juli will sie dann die Leitzinsen erhöhen, zunächst um 25 Basispunkte.

EZB beendet Anleihekäufe und kündigt Zinserhöhungen an, dw.com, 09.06.2022

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat zur Bekämpfung der Rekordinflation die größte Zinserhöhung ihrer Geschichte beschlossen.

Größte EZB-Zinserhöhung seit Euro-Bargeldeinführung, br.de, 08.09.2022

Seitdem die US-Notenbank Fed im März mit den schnellsten Zinserhöhungen seit 1981 begonnen hat […] Forward Guidance ade: Fed will sich nicht mehr in die Karten schauen lassen, capital.de, 28.07.2022

Und das wohl noch „im bestehenden System“? Womöglich reicht ein FH-Aalen-BWL-Studium dann doch nicht aus, um verantwortlich öffentlich über Geldpolitik dozieren zu können. Es ist kein Problem, am Stammtisch Parolen rauszuhauen. Es ist aber schon ein Problem, ganze Hallen gefüllt mit finanziellen Laien mit finanziellen Fake News irrezuleiten und die Finanzmedienmaschinerie mit immer neuem Blödsinn in Artikel- und Interviewform zu füttern. Immerhin weiß man ja nicht genau, ob das Absicht (d.h. Betrug) ist, oder ob Marc Friedrich wirklich selbst glaubt, was er sagt – ob er es also wirklich nicht besser weiß. Die Schnellfeuersalven der Crash-Versatzstücke können eigentlich nur auf letzterem beruhen. Aber warum taucht dieser erwiesenermaßen fachlich erfolglose Mann permanent in reichweitenstarken Publikationen auf?

In Bezug auf die EZB-Politik kommt es aber selbst in seriöseren Kreisen ab und zu zu tumultartigen Szenen. So berichtet das Handelsblatt unter dem Titel „POLEMISCHE DEBATTE – „EZB verstößt vollkommen offensichtlich gegen ihr Mandat““ von einer Konferenz des Finanzanalystenverbands DVFA, deren Diskussion so eskaliert ist, dass der Hausherr der Veranstaltung eingreifen musste.

In den vergangenen Jahren erlebte Deutschland einen der längsten Wirtschaftsaufschwünge der Nachkriegszeit. Seit 2010 wuchs die deutsche Wirtschaft jährlich um durchschnittlich 2%. Die Arbeitslosigkeit fiel auf das niedrigste Niveau seit der Wiedervereinigung. […]

Trotz dieser beachtlichen Erfolge hat sich die öffentliche Diskussion über die Geldpolitik in Teilen des Euroraums, vor allem aber in Deutschland, verschärft.

Dabei wird die Debatte durch verschiedene Narrative beherrscht, wie die „Enteignung“ der deutschen Sparer durch „Strafzinsen“, die „Geldschwemme“, die irgendwann zu einer enormen Inflation führe, und die Schaffung von „Zombie-Unternehmen“ durch die expansive Geldpolitik.

Narrative über die Geldpolitik der EZB – Wirklichkeit oder Fiktion?, ecb.europa.eu, 11.02.2020

Im Rückblick ist es so, dass die EZB ihr Mandat nach Art. 127 Abs. 1 Satz 1 AEUV, d.h. die Gewährleistung der Preisstabilität, interpretiert als Preisniveaustabilität, erfüllt hat. Die Inflationsrate seit Euro-Einführung beträgt etwa genau 2% p.a., inklusive des Jahres 2022. Mehr ist von der EZB schlicht nicht gefordert, erst nachrangig in Art. 127 Abs. 1 Satz 2 AEUV die Unterstützung der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung.

Anzeige

Es hat sich jedoch in einem Teil der Bevölkerung eingebürgert, EZB-Quellen bei der EZB-Kritik gar nicht erst zur Kenntnis zu nehmen, da die EZB in der Debatte ja „die falsche Seite“ vertritt. Kann man machen. Dann kommt man aber in der Sache eben sehr wahrscheinlich nicht zu einem besseren Ergebnis. So wie es in Pandemiesituationen richtig ist, forschungspraktizierenden Virologen und Epidemiologen zuzuhören, so wie es richtig ist, den Ausführungen des Vorstands im Geschäftsbericht besondere Aufmerksamkeit zu schenken, so ist es auch in geldpolitischen Fragen wichtig, zuerst einmal das Verständnis derer zu studieren, die für diese verantwortlich sind.

Bei vielen Menschen entsteht die politische Haltung nicht aus Fakten, sondern alle Fakten dienen einer Haltung. Warum ist das so – und muss es so bleiben?

Das Leben verlangt ständig von uns, dass wir Stellung beziehen, zu privaten, aber auch zu öffentlichen Fragen: Flüchtlingskrise, Corona-Krise, Klimakrise, Ukrainekrieg, Fußball-WM in Qatar. Die meisten würden wohl behaupten, sich entlang von Fakten zu positionieren: Man schaut sich die Dinge an und entscheidet dann, wie man zu ihnen steht. Zum Beispiel beim Bürgergeld: Man liest, rechnet vielleicht und urteilt dann. Das ist die induktive Methode. Die mindestens so verbreitete Deduktion geht andersherum: Man ist ein Linker, also findet man das, was von den Linken für gut befunden wird, auch gut, zum Beispiel das Bürgergeld. […]

Manche sehen es als Zeichen von Souveränität, heute dies und morgen das Gegenteil davon zu behaupten. Andere – teils dieselben – haben das Widersprechen zu ihrem Markenzeichen gemacht, vom In­halt weitgehend unabhängig. Unter dem Strich neigen die Menschen dazu, auf der Seite jener stehen zu wollen, die so sind, wie sie selbst sein wollen, oder deren Urteil sie auch in anderen Kontexten geteilt haben.

Zuerst die Haltung, dann die Fakten, faz.net, 25.12.2022

Spätestens seit Corona sehen sich langjährig berufserfahrene fachspezifische Experten einer Front von bestenfalls tageszeitungsgebildeten Laienexperten gegenüber, die der Ansicht sind, sie wüssten alles besser. Die im Kern antidemokratische Haltung einiger derer scheint spätestens dann durch, wenn alle öffentlichen Stellen einem Generalverdacht ausgesetzt werden. Befeuert von Medien und Politikern, die draufhauen statt erklären:

Narrative über die Geldpolitik der EZB – Wirklichkeit oder Fiktion?, ecb.europa.eu, 11.02.2020
Narrative über die Geldpolitik der EZB – Wirklichkeit oder Fiktion?, ecb.europa.eu, 11.02.2020

Es gibt natürlich Nebenwirkungen niedriger oder negativer Zinsen. Hervorzuheben sind hier in den vergangenen Jahren möglicherweise die gestiegenen Preisniveaus für Vermögensgegenstände. Zumindest im Aktienbereich ist dafür jedoch nichts ersichtlich:

DAX-KGV, boerse.de

Auch beim S&P 500 sticht die Niedrigzinsphase nicht als dermaßen ungewöhnlich hervor, dass es der Rede wert wäre:

https://www.macrotrends.net/2577/sp-500-pe-ratio-price-to-earnings-chart

Bei Immobilien mögen die Preise stark gestiegen sein. Dies ist aber nicht allein geldpolitisch bedingt. Die Geldpolitik hat lediglich die finanziellen Konditionen temporär verbilligt. Der Kaufwunsch kommt aber zum einen von in die Metropolen zuziehenden Selbstnutzern, die auf ein knappes Angebot treffen, und zum anderen von Personen, die sich eine langfristige Renditeperspektive auch bei immer weiter sinkenden Renditen erhoffen. Dabei gilt wie immer: die Metropolen gehen dem Umland voran und jedem Käufer, der die Kaufgelegenheit für einmalig hält, steht ein Immobilienverkäufer gegenüber, der genau den richtigen Zeitpunkt für einen Verkauf gekommen sieht.

Anzeige

Bevölkerungsentwicklung, Folgen des demographischen Wandels in einer ‚Gewinnerregion‘, springer.com,
LBBW, finanzen.at, 25.05.2020

Überhaupt ist das Zinsthema in Deutschland medial unausgewogen beleuchtet. Denn in den Medien findet nur der Sparer statt, der, wie oben gezeigt, real sowieso noch nie Geld mit Spareinlagen verdienen konnte. Nicht statt findet aber regelmäßig die Kehrseite der Medaille, die niedrigen Kreditzinsen, die zum Ziel haben, die Kreditaufnahme anzureizen, um mittelbar nachfragewirksame Einkommen zu finanzieren und so Preissteigerungen zu begünstigen. Kaum jemand diskutiert darüber, dass offenbar zu wenig Kredite von den Richtigen (d.h. von den Unternehmen) aufgenommen werden.

So hat ein durchschnittlicher Nettosparer im Jahr zwar rund 500 Euro weniger an Zinserträgen erhalten. Dafür hat ein durchschnittlicher Nettokreditnehmer jedes Jahr fast 2.000 Euro an Zinszahlungen gespart.

Narrative über die Geldpolitik der EZB – Wirklichkeit oder Fiktion?, ecb.europa.eu, 11.02.2020

„Es ist schlicht falsch, dass die EZB den Zins alleine macht“, argumentiert auch Rüdiger Bachmann, Professor für Makroökonomik an der US Universität Notre Dame. „Sie muss sich viel mehr am natürlichen Zins orientieren.“ Als solchen versteht man den theoretischen Zins, bei dem der Gütermarkt im Gleichgewicht und das Preisniveau stabil ist. „Und der ist aktuell aufgrund vieler Faktoren niedrig“, fährt Bachmann fort. „So sparen zum Beispiel unheimlich viele Leute, weil die Gesellschaften älter werden. Auch die Unternehmen sparen heute viel mehr.“ Zudem lebten wir zunehmend in einer The-Winner-Takes-It-All-Ökonomie, in der die Konzentration der wirtschaftlichen Stärke bei wenigen Unternehmen dazu führe, dass sie weniger Druck hätten, zu investieren.

„Es muss klar sein: Man kann nicht über niedrige Zinsen meckern und gleichzeitig knausrig sparen“, meint Bachmann. „Wenn Staat, Unternehmen und Privatiers ihr Geld lieber sparen als zu investieren, sinkt der Zins.“ Verantwortlich sind folglich aus seiner Sicht die politischen Rahmenbedingungen. „Der niedrige Zins wird hauptsächlich nicht bei der EZB, sondern in Berlin und Brüssel gemacht“, schlussfolgert Bachmann.

Notenbanken als Sündenbock: „Der niedrige Zins wird in Berlin und Brüssel gemacht“, tagespiegel.de, 24.11.2019

Das hat sich ja nun mit der Russlandkrise ab 2022 (und mit vorangegangener Marktmanipulation in 2021) ohnehin alles erledigt, da die Inflationsrate angesprungen ist und nun die geldpolitisch leichtere Variante möglich wird, diese mit Zinssteigerungen zu bekämpfen.

In demselben Zeitraum, in den der Aufstieg des Denialismus und des Postfaktischen fällt, d.h. deutlich nach 2010, aber letztlich über die gesamte Dekade hinweg, fällt zufällig auch der Aufstieg der Crash-Propheten, die offenbar das Bedürfnis eines Teils der Bevölkerung nach einfachen Welterklärungen, nach einfachen Lösungen oder nach schlichtem Krawall stillen.

Deren Ursprünge lassen sich vor allem bis in die Zeit der großen Finanzkrise (bzw. mit dem Beispiel Max Otte sogar noch in die Zeit davor) und den darauf folgenden fiskal- und geldpolitischen Konsequenzen zurückverfolgen. Es ist eigentlich nicht nur das Crash-Prophetentum an sich das Problem, sondern überhaupt Finanzentscheidungen ohne zureichende Faktengrundlage (d.h. postfaktisch) auf selbstverschuldeter Unmündigkeitsbasis, was wiederum einen Nährboden bildet. Allerdings tritt das Crash-Prophetentum nach wie vor am lautesten auf und verschiedene Medien bieten dem Theater immer noch eine zu große Bühne, weil sich Sensation so gut verkauft.

finom kostenloses all in one gesch?ftskontoAnzeige

Die Konjunktur schwächelt zum Jahresende in Deutschland, nur eine Branche wächst: die der Crash-Propheten, die den Untergang der Wirtschaft vorhersagen. Sie heißen Krall und Friedrich, Matthias Weik, Dirk Müller oder Max Otte. Ihre Bücher tragen Titel wie „Der größte Crash aller Zeiten“, „Weltsystemcrash“, „Der Draghi-Crash“ oder einfach: „Der Crash ist da“. In den Bestsellerlisten tauchten zuletzt drei solcher Titel unter den ersten zehn auf. Massenhaft lagen sie als Geschenke unter den Weihnachtsbäumen. Die Propheten finden Gehör. Ihre Beiträge auf Youtube werden hunderttausendfach geklickt. Sie tingeln durch Talkshows, diskutieren mit seriösen Ökonomen und hinterlassen ein nachdenkliches Publikum. […]

Die Bücher sind alle ähnlich aufgebaut: Zunächst beschreiben die Autoren ökonomische Ungleichgewichte, die tatsächlich bestehen. Ein zentrale Rolle spielen die Geldschwemme durch die Notenbanken, die Verschuldung Italiens und die Konstruktionsfehler des Euro. Hinzu kommen die Anfälligkeit europäischer Banken, illegale Einwanderung, wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, Klimakatastrophe. Die Autoren lassen die Probleme in der Zukunft immer weiter wachsen. Daraus folgt schließlich der große Zusammenbruch. Wer die Bücher liest, fühlt sich am Ende erschlagen von solcher Zwangsläufigkeit. […]

Die Autoren haben weder die Kompetenz noch besondere Daten noch besondere Möglichkeiten der Interpretation, um solche Thesen aufzustellen„, sagt Fondsmanager [Andreas] Beck.

sueddeutsche.de, 27.12.2019

Dass das außerordentlich passgenau auf die in unserem ersten Artikel zum metaphysischen Bedürfnis beschriebenen Entwicklungen passt, belegt die folgende Aussage der Süddeutschen:

Bei den Propheten klingt jedoch oft Skepsis gegenüber der Marktwirtschaft durch. Ihr Ton ist illiberal, es gibt eine Nähe zu Rechtspopulismus und Verschwörungstheorien, manchmal auch zu Nationalismus. Bei Menschen mit einem pessimistischen Weltbild finden sie damit Anklang.

sueddeutsche.de, 27.12.2019

Wir würden die Süddeutsche nicht zitieren, wenn wir die dort angestellte Analyse inhaltlich nicht teilen würden.

Die Thesen folgen einem Muster: Die EZB-Politik zerstört unseren Wohlstand, die Verschuldung zerstört die wirtschaftliche Tragfähigkeit unserer Staaten, falsche Migrationspolitik zerstört unsere liberale Gesellschaft. Immer gibt es einen Bösen, immer ist der normale Bürger das Opfer. Und dazwischen der Prophet als einsamer Rufer in der Wüste. 

sueddeutsche.de, 27.12.2019

Der lauteste Vertreter dieser Generation Medienlieblinge ist sicherlich unstrittig der oben schon genannte Marc Friedrich, ein Faktenverdrehungsschreihals derartigen Ausmaßes, dass er sicherlich noch Jahre unerreicht bleiben wird. Zuzuordnen ist er einer unterinformierten, radikallibertären, vulgarisierten Ausprägung der Österreichischen Schule, ohne dies in dieser Klarheit aber selbst äußern zu wollen.

„Es gibt gute Ansätze bei Keynes, bei Karl Marx, in der österreichischen Schule der Nationalökonomie.“

faz.net, 24.10.2017

Marc Friedrich also, Ökonomendarsteller und seines Zeichens ausgewiesener Finanzexperte des renommierten Ökonomiemediums BILD.tv, nach unserem vorangegangenen Artikel: natürlich ein Schwabe, warnt vor dem Crash im Jahr 2023, jedoch:

Wie alle guten Crash-Propheten haben sie aber wohlweislich darauf verzichtet, einen genauen Termin für den Zusammenbruch des Finanzsystems zu nennen. „Das wäre unseriös.“ [Marc Friedrich]

faz.net, 24.10.2017

Für Marc Friedrich kommt er spätestens 2023, der „größte Crash aller Zeiten“.

sueddeutsche.de, 27.12.2019

Und auch Otte prophezeite in seinem Buch „Der Crash kommt“ – allerdings als einziger, der tatsächlich einmal Recht hatte, der sowohl die Gründe hinreichend konkret benannt hatte, als auch grob den Zeitraumen getroffen hat:

Ich kann Ihnen nicht sagen, ob der Crash im Jahr 2007 kommt. Vielleicht ist es dann schon so weit, vielleicht erst im Jahr 2009 oder 2010. Menschliches Verhalten – und um nichts anderes handelt es sich bei dem Ausbruch einer großen Wirtschaftskrise – lässt sich nicht mit mathematischer Präzision voraussagen, auch wenn es bestimmte Krisenpropheten immer wieder versuchen. Einige der stärksten Hinweise deuten eher auf das Jahr 2010, andere schon auf Ende 2007.

Otte, in: Der Crash kommt, Einleitung

Otte war tatsächlich respektabel nah dran an der Wirklichkeit, wir haben es nicht glauben können und uns (äußerst aufwändig) eine Erstausgabe aus 2006 von Ottes Buch besorgt. Er hat den US-Immobilienmarkt als Problem benannt und auch zutreffend, warum. Otte hatte in seinem Buch im Wesentlichen zwei Crash-Szenarien aufgestellt: das eine war der Crash des Dollars und das andere der Crash des Immobilienmarkts, sodass es im Ergebnis nicht eindeutig ein einziges Szenario war.

Allerdings: was er in seinem Buch schrieb, war damals schon in mehr oder weniger ausgeprägten Ansätzen der Tagespresse zu entnehmen. Das schmälert das Verdienst nicht, ein früher Warner gewesen zu sein. Dennoch, Originalität kann er für sich nicht reklamieren, da waren andere zu gleichen oder früheren Zeitpunkten bereits wesentlich weiter und wesentlich dezidierter (Michael Burry z.B.); wir werden dieses Thema zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal aufbereiten. Otte ist allerdings auch erst nach der Finanzkrise ins andere Lager gewechselt; möglicherweise stieg ihm der Erfolg zu Kopf, während der Finanzkrise so oft in Talkshows eingeladen worden zu sein.

Kühne Prognosen mit weit weniger Erfolg stellte auch Markus Krall auf:

Im dritten oder vierten Quartal 2020 werde es in der Weltwirtschaft krachen, prophezeit Markus Krall. Erst kommt nach seiner Vorhersage die Rezession, dann kippen die Banken, die Preise stürzen ab, die Notenbanken halten mit noch mehr Geld dagegen, was zu starker Inflation führt und schließlich zum Zusammenbruch des Finanzsystems.

sueddeutsche.de, 27.12.2019

Ging leider schief, aber nun wird es wie beschrieben eben 2023. Und wenn das nichts wird, vermutlich 2026, um schon einmal vorzugreifen. Auch Dirk Müller ist Hellseher, er kannte Corona vor Corona:

Dirk Müller: Ich bin kein Hellseher, aber ich versuche stets, soweit es realistisch möglich ist, vorauszuschauen. Und was jetzt passiert, habe ich schon 2018 eins zu eins beschrieben.

focus.de, 05.05.2020

Vor der Finanzkrise war es auch abzusehen, dass uns diese Immobilienverbriefungen um die Ohren fliegen würden.

focus.de, 05.05.2020

Mag abzusehen gewesen sein, aber nicht von Bis-in-die-letzte-Fußnote-Müller. Otte hat es gemacht. Müller dagegen nun wieder zu Corona:

[Müller:] Ich glaube, man kann jetzt sagen: Das ist „The Big One“. Das ist der große Crash, auf den ich gewartet habe. Wenn dieser Crash durch ist, dann haben wir wieder über viele Jahre Ruhe.

MONEY: Wie schlimm kann es denn jetzt noch werden?

Müller: So etwas hat es in der Weltgeschichte noch nicht gegeben.

focus.de, 05.05.2020

Corona-Krise war das eine Thema, aber das war absehbar nicht das eine große Event. Wer meine Aussagen so die letzten Jahre verfolgt hat, der weiß, dass ich schon viele Jahre vor einem Big One warne. Vor einer größten Wirtschaftskrise aller Zeiten. Größten deshalb, weil sie weltweit gleichzeitig stattfinden wird. Und das war durch Corona noch nicht der Auslöser. Denn meine Aussage war immer, Auslöser werden steigende US-Zinsen sein.

Mr. Dax Dirk Müller: „Kettenreaktion einer weltweiten Wirtschaftskrise ist gar nicht abschätzbar“, Dirk Müller auf youtube, 27.05.2022

Gott sei Dank haben wir uns unsere Hausaufgaben selbstgemacht. Nicht nur einfach irgendwelche Zeitungen gelesen, sondern haben’s selbst analysiert und haben gesagt: „Das ist Bullshit!“ Wir haben das Unternehmen bis ins letzte Detail überprüft. Bis in die letzte Fußnote. Das ist sauber und das ist vollkommen unterbewertet.

Dirk Müller über Wirecard, youtube.de

Kurioserweise hat er Corona mittendrin als Big One bezeichnet, weiß jetzt aber im Nachhinein, dass Corona bereits „absehbar“ nicht „the Big One“ war. Wirecard hat er dagegen vorher nicht abgesehen. Schon Mark Twain wusste, dass Prognosen schwierig sind, besonders dann, wenn sie die Zukunft betreffen.

Diese Fragen beantworten Matthias Weik und Marc Friedrich unmissverständlich in „Der größte Raubzug der Geschichte“. Auf Seite 84 schreiben sie: „Können Sie in die Zukunft sehen? Ich nicht! Mir ist völlig unklar, wie Banker, Analysten und sonstige sogenannte Experten es schaffen, in die Zukunft zu sehen. Leider ist es oftmals absoluter Humbug, den sie von sich geben.

Die Thesen der Crash-Propheten Weik und Friedrich im Check, finanzen100.de, 10.01.2020

Damit wäre dann wohl dazu alles gesagt. Es ist an der Zeit, die Parallele zu ziehen: die Crash-Propheten sind Finanzschwurbler. Es ist schlicht substanzlose Schwurbelei, die sich einfügt in einen allgemeinen Trend zur Schwurbelei in einem Teil der Gesellschaft. Daneben wird ein Stil gepflegt, der durchsichtig vom Egozentrisch-Libertären bis nahe ans Rechts-Esoterische hineinspielt (wie z.B. der Hang zum Prepping bei Friedrich und Müller zeigt oder die wohl für die Youtube-Kamera kultivierte Impfskepsis bei Friedrich et al.).

Beim Publikum fallen solche Thesen auf fruchtbaren Boden. Laut der Zeitschrift Der Spiegel haben Matthias Weik und Marc Friedrich von ihren insgesamt fünf Büchern, die seit 2012 erschienen sind, bereits mehr als eine halbe Million Exemplare verkauft, unterstützt von einer Medienmaschine, die den Schwarzmalern kaum etwas entgegenzusetzen hat und sich lustvoll an deren verdrehtem Weltbild ergötzt.

Bemerkenswerterweise hat sich bisher niemand die Mühe gemacht, die Prognosegüte des schwäbischen Untergangsduos zu überprüfen. 2012 erschien ihr erstes Buch „Der größte Raubzug der Geschichte“, auch ein Bestseller. Die darin enthaltenen Vorhersagen unterscheiden sich kaum von denen, die sie sieben Jahre später propagieren. Von den für Geldanleger relevanten Vorhersagen und Empfehlungen, die Weik und Friedrich damals unter das Volk brachten, erwiesen sich alle als falsch.

Markus Neumann in: Fair Value Magazin

Friedrich & Weik bedienten sich schon lange vor Corona eines Querdenker-Duktus, wonach überall „Lügen„, „Betrügereien“ „der“ Elite, „der“ Medien und „der“ Politik, zu suchen und zu finden sind.

„Herzlich willkommen auf einer spannenden Reise in die Welt des Wahnsinns, der Lügen, des Betrugs und der größten Kapitalvernichtung, die die Menschheit je erlebt hat.“

Weik & Friedrich, Der größte Raubzug der Geschichte

Das mag eintreten, wenn man Friedrich & Weiks Bücher liest oder ihnen zuhört. Das Einzigartige und Bemerkenswerte an Friedrich & Weik (mittlerweile nur noch: Friedrich) ist, dass sie seit beinahe einem Jahrzehnt permanent auf Basis mangelnden Fachwissens zu falschen Schlussfolgerungen kommen, das aber nie explizit in einem Verschwörungszusammenhang präsentiert haben, sie also nie den einen großen Fehler begangen zu haben, sich unnötigerweise auf Nebenkriegsschauplätzen angreifbar bzw. sich damit gesellschaftlich völlig unmöglich zu machen. Wir kommen dazu später noch.

Wer so formuliert, dem geht es nicht um die Warnung vor einem Crash – wer so schreibt, der begibt sich auf Stammtischniveau und hetzt mutwillig Menschen gegeneinander auf. 

Marc Friedrichs und Matthias Weiks „Der größte Crash aller Zeiten“ wendet sich an den ‚kleinen‘ Mann, buchszene.de

Lediglich zu Beginn der Corona-Krise glitt deren zwischenzeitlich umbenannter und in Bezug auf historische Videos großteils vom Netz genommene Youtube-Kanal teilweise in trübe Gewässer ab. Seitdem es nur noch Marc Friedrich gibt, wurde insgesamt eine neue Marketing-Strategie verordnet, die im Wesentlichen mit einem kreidefressenden, jedoch stets maliziös lächelnden Wolf am besten umschrieben wird.

Marc Friedrich und Matthias Weik machen sich etwa in ihrem Bestseller „Der größte Crash aller Zeiten“ bei aller berechtigten Kritik am Euro-System über Politiker lustig: „Wir sind zu der traurigen Erkenntnis gelangt, dass offenkundig Komiker die Macht übernommen haben.“ Generell, meinen die Autoren, könne man bei der politischen Elite selbstsicheres Auftreten bei absoluter Ahnungslosigkeit beobachten. Respekt war gestern, heute wird eben gelästert und vor allem nicht differenziert. Schwarz oder weiß. Bloß nicht grau. Grau wirkt nur intellektuell – was aus Sicht der Populisten mindestens so problematisch ist wie Eliten.

Warum der Begriff „Elite“ als Schimpfwort nicht weiterführt, augsburger-allgemeine.de

Dabei dürfen aber die Anfänge von Friedrich & Weik nicht unberücksichtigt bleiben. Lange vergangen sind mittlerweile die konkreten Nachwirkungen von Finanz- und Eurokrise und auch Occupy und Blockupy sind nicht mehr im kollektiven Gedächtnis. Friedrich & Weik dozierten aber im Jahr 2013 auf dem von dem zwischenzeitlich offenbar in Paraguay wohnhaften Sven Hermann veranstalteten Kongress „Plan & Perspektive – Existenzsicherung in Systemkrisen I“, die vom regelmäßig provokant bis übertrieben provokant formulierenden Magazin Smart Investor als „ansprechend“ beklatscht und in der Zeitschrift „Junge Freiheit“ beworben wurde.

Eine Versammlung von Edelmetallfreunden, Preppern und Geldsystemskeptikern als Teil einer Kongressreihe mit abstrusen Vorstellungen, wie man sie heute im Querdenkerumfeld vorfindet und wie man sie über all die Jahre in den Äußerungen von Crash-Propheten vorfand. Zwei Jahre früher etwa referierte auf einer Vorgängerveranstaltung von Veranstalter Sven Hermann noch Udo Ulfkotte, beschwerte sich gleich einleitend über grassierende Political Correctness und ein anderer bezeichnete die NATO als North-Atlantic-Terror-Organization. Schaut man sich die hier verlinkte Berichterstattung über die beiden Veranstaltungen einmal an, dann vereinbart sich das Beschriebene sehr gut mit dem traditionell von Friedrich & Weik offerierten Weltbild.

Permanente (Fehl-)Prognosen als selbst geschaufeltes Grab

Nur: die Eurozone ist nicht auseinandergebrochen. Den Euro gibt es nach wie vor. Die Banken sind nicht umgekippt. Es gibt weder Hyperdeflation, noch Hyperinflation, noch den von Vulgär-Österreichern immer wieder vorgebrachten „Crack-Up-Boom“ (der auch beim Smart Investor als vulgärösterreichischem Leitmedium im Newsletter in beinahe jeder Woche ad nauseam heraufbeschworen wird).

Und das ist auch keineswegs überraschend. Das hätte man nicht nur ahnen können, das war sogar das Basisszenario. Denn natürlich schaut die Politik, einschließlich der Geldpolitik, bei Herausforderungen nicht tatenlos zu. Der Reflex des Gesetzgebers und des Regulators, der bei Crash-Propheten konsequent ausgeblendet wird, ist schlicht zu erwarten. Das ist aber regelmäßig nachträglich das, was dann von Crash-Propheten als Grund angeführt wird, warum der Crash nun doch wieder nicht kam.

Marc Friedrich formuliert oft: „Die Daten zeigen das“. Liest man sich einmal die Begründung im 2. Kapital von der „Der größte Crash aller Zeiten“ durch, heißt es dort wieder und wieder: „unsere Modelle“, „alle Indikatoren“. Und immer wieder von Friedrich „Die Daten zeigen es ganz klar“, nur um dann weder das Modell zu erläutern, die Indikatoren zu nennen und deren besondere Eignung zu erläutern, noch die „klaren“ Daten zu zeigen, noch irgendeinen stichhaltigen Beleg konkret für das Jahr 2023 anzuführen.

Das ist auch nicht verwunderlich, denn Friedrich & Weik leisten es sich, ein Geldsystem zu kritisieren, das sie nicht verstanden haben. Sie fokussieren sich unzulässigerweise einseitig (auf Verschuldung) und sehen deshalb den Wald vor Bäumen nicht. Äußern sich aber dennoch in alarmistischer Theatralik. Wir wollen die Finanzschwurbelei ja in den Zusammenhang bringen mit den gesellschaftlichen Phänomenen, die wir zur Hochphase der Corona-Pandemie gesehen haben. Crash-Propheten sind hinsichtlich der Qualität ihrer Überlegungen nichts anderes als Finanz-Querdenker, und es ist sowohl bei Querdenkern wie bei Finanz-Querdenkern immer bitter, offen zur Schau gestellte Überforderung mit ansehen zu müssen.

Viele Mythen mit denen die Geschäftemacher mit der Angst seit Jahren hausieren gehen, haben sich schon durch Zeitablauf entlarvt. Das allermeiste konnte aber im Vorfeld durch den Konsum seriöser Quellen abgesehen werden.

  • So hat die Bundesbank schon im Monatsbericht vom Dezember 2018 zu der These der Zombie-Unternehmen geschrieben: „Deutschland hat kein Problem mit ertragsschwachen Unternehmen„. Die größte globale Krise seit 1929 hat es nicht geschafft, die kruden Krall’schen Thesen vom Kippen der Zombies mit anschließendem Untergang des Bankensystems einzuleiten. Möglicherweise sind sie also schlicht…falsch?
  • Krall prognostizierte für das dritte Quartal 2020 eine große Bankenkrise, die bekanntlich nicht kam. Marc Friedrich prognostiziert für 2023 den großen Crash – nun aber wirklich. Auf der Basis seiner (unveröffentlichten) „Berechnungen“. Es ist nichts dafür ersichtlich und wir gehen jede Wette ein, dass dem – erneut – nicht so sein wird.
  • Dirk Müller warnt nun schon seit ewigen Jahren vor „the Big One“. Und obwohl innerhalb von zwei Jahren Krieg und Pandemie mit der Folge der größten globalen Wirtschaftskontraktion seit 1929 auftraten, will er einfach nicht kommen.

Immerhin für Krall hat der Hang zum Provozieren auf falscher Faktengrundlage Folgen:

Zu den Gründen machte das Unternehmen keine Angaben. […] Krall hatte als Degussa-Chef stark polarisiert. In Vorträgen und sozialen Medien hatte er jahrelang düstere Wirtschaftsprognosen verbreitet, den Klimawandel infrage gestellt und sich beispielsweise für ein liberales Waffenrecht oder die Einschränkung des Wahlrechts für Empfänger von Transferleistungen starkgemacht.

Geschäftsführer Markus Krall mit sofortiger Wirkung freigestellt, 01.12.2022, handelsblatt.com

Wobei bei Degussa ja nicht nur Markus Krall und der „Degussa“-Namensrechteeigentümer schief hängen. „Chefvolkswirt“ Thorsten Polleit ist inhaltlich ganz ähnlich unterwegs, allerdings viel ersichtlicher darauf aus, sein eigentliches Produkt (Gold) zu vertreiben als in erster Linie sich selbst.

Des Weiteren ist Friedrich wie schon erläutert kein Ökonom, sondern Fachhochschulbetriebswirt. Und das merkt man auch an der unsauberen Arbeitsweise. Natürlich wurde keine seiner Arbeiten ökonomisch peer-reviewed. Sie kamen direkt ungeprüft in den Buchhandel. Das Ergebnis wäre auch verheerend gewesen. Es scheitert schon daran, überhaupt stringent ökonomisch zu argumentieren, da fortwährend Tageszeitungsversatzstücke aneinandergereiht werden und dies als Argumentation bezeichnet wird – d.h. bei den sog. Büchern handelt es sich im Wesentlichen um ein Sekundärquellenprodukt?

Zuzugestehen sein mag ihm, dass sich die Bücher natürlich gut lesen lassen, insbesondere, wenn man ohnehin dem modernen Krawall zugeneigt ist (d.h. eine Meinung zu haben, ohne sie sich auf seriöser Grundlage gebildet zu haben) und dann mit unfundierter Sensation gefüttert wird.

Immer dann, wenn sie unter sich sind, laufen die Crash-Populisten zu ganz besonderer Hochform auf – ähnlich den Querdenkern. So wurde denn auch schon für 2021 ein Crash prognostiziert, der nie kam.

Mit der offiziellen Methode, wie die Inflation berechnet wird: Geldmengenwachstum M3 minus Wirtschaftswachstum. Alles andere ist manipuliert und Propaganda. Das spüren und sehen wir alle. Man muss sich doch nur die Aktienmärkte anschauen oder die Preise von Rohstoffen, Edelmetallen und natürlich Bitcoin.

Corona und dann der Crash?, 14.05.2021, fuldaerzeitung.de

Die offizielle Methode, wie Inflation berechnet wird, ist das selbstverständlich nicht. Aber wer prüft das schon nach? Die von Friedrich angeführte „offizielle“ Methode ist diejenige der Quantitätstheoretiker, welche Anhänger einer Theorie sind, die seit langem als überholt gilt. Und die theoretische Fundierung ist wieder herzallerliebst: zuerst auf die Gefühle gehen, dann auf die bloße äußere Erscheinung verweisen.

Gerd Kommer hat dankenswerterweise einmal für alle medienwirksamen Crash-Propheten untersucht, wie gut sich eine Geldanlage dieser Prägung geschlagen hätte: das Ergebnis ist katastrophal.

Bis auf Otte fehlt ihnen allen ja auch jedes wirtschaftliche Verständnis. Ganz ähnlich also wie bei den Schwurblern, deren Meinung sich im Wesentlichen aus Telegram zu speisen scheint. Wer also an den tatsächlichen Gegebenheiten im Sinne eines unterkomplexen Weltbilds vorbeiargumentiert, kann auch nur Unsinn erzählen.

Woran es in der Breite am meisten mangelt, ist das Bewusstsein über kognitive Verzerrungen. Insbesondere in der modernen Medienwelt. Es mag sein, dass nicht alles wahr ist, was in Massenmedien steht. Was auf Telegram in Verschwörungsgruppen verbreitet ist, ist aber auf jeden Fall nicht wahr, denn die „Fakten“ halten regelmäßig einer kurzen Google-Überprüfung schon nicht stand. In der Frühphase von Facebook war die Antwort auf die Frage, was das Geschäftsmodell sein soll: „wenn das Produkt nichts kostet, bist Du das Produkt“. Ähnlich ist es mit der Schwurbler-Szene. Die Multiplikatoren haben hier auf der Gedankenfaulheit von Millionen Menschen lukrative Geschäftsmodelle aufgebaut.

Wie kann das sein? Was finden die Deutschen nur an zwei Vermögensberatern aus Lorch bei Stuttgart, die zwar beide Wirtschaft studiert haben, die aber weder mit brillanten wissenschaftlichen Arbeiten noch mit atemberaubenden Karrieren aufgefallen sind?

Wenn der Crash kommt, faz.net, 24.10.2017

Ja, wie kann das sein? Was finden die Deutschen in Gesundheitsfragen an veganen Kochbuchautoren, an Hals-Nasen-Ohren-Ärzten, Schlager-Stars, ehemaligen Moskau-Korrespondenten des (als Nachrichtenmagazin wohl eher zu belächelnden) Focus? Was finden die Deutschen in Wirtschafts- und Finanzfragen an Autoren, die nie wissenschaftlich publiziert haben, die ihre Behauptungen und Erkenntnisse nie im wissenschaftlichen Peer-Review-Verfahren gegenchecken lassen mussten, deren Expertise sich lediglich aus Zuschreibungen vom in Deutschland herausragend schwachbrüstigen Finanzjournalismus ergibt? Oh, pardon, es gab doch einen Peer Review:

Man kann darüber lächeln, dass Matthias Weik sagt, seine Mutter habe das erste Buch gegengelesen und auf Verständlichkeit geprüft.

Wenn der Crash kommt, faz.net, 24.10.2017
Der unangefochtene Schwurbelkönig

Norbert Häring, seines Zeichens Handelsblatt-Journalist, dürfte dem einen oder anderen vielleicht bekannt sein. Häring fällt seit einiger Zeit auf seinen privaten Plattformen durch massiven Abrutsch in verschwörungstheoretischen Blödsinn auf. Da ist die Rede von Corona-Regime, Globalismus, Bezugnahmen auf Boris Reitschuster und, und, und. Das wäre alles nicht so schlimm, wäre Häring nicht so offensichtlich wenig sattelfest in den Bereichen, in denen er sogar Wirtschaftsbücher verfasst. Auch hier über das unoriginell formelhafte „Endspiel des Kapitalismus“. Wohlgemerkt: wir reden hier immerhin über einen Handelsblatt-Journalisten und nicht über den Wirtschaftsteil der Hintertupfinger Zeitung.

Weshalb das Handelsblatt wohl auch nur noch ein Medium diskutabler Qualität ist…

Horst Lüning, besser bekannt als Unternehmer (nicht: Gründer) von whisky.de und mittlerweile bunter Hund in Finanzsendungen, weil er mit dem (nur mit-)erwirtschafteten Wohlstand des von seiner Frau gegründeten Unternehmens als „Millionär“ durch die Finanzsendungen tingelt und sich so einen Namen mit größerer Reichweite gemacht hat. Leider hat Horst Lüning, der sehr regelmäßig auf Youtube neben einem Whiskyfass über Gott und die Welt parliert, seine alten Videos (vor 2021) gelöscht bzw. auf privat gestellt. Gäbe es sie noch, hätte man sich ansehen können, dass Lüning ebenfalls den ganzen Krall-/Zombie-/Eurountergangs-/Geldsystemuntergangsunsinn weiterverbreitet hat. Leider!

Finanzschwurbel-Clickbait auch bei Horst Lüning

Kolja Barghoorn, einst Hoffnungsträger für moderne Wissensvermittlung im Finanzbereich, scheint der wohl nicht ausgebliebene monetäre Erfolg (er lebt mittlerweile auf Mallorca) offenbar gänzlich zu Kopf gestiegen zu sein. Nachdem – verständlicherweise – irgendwann einmal alles gesagt war zu Aktien und ETF-Sparplänen hat er sich neuerdings den Schwurblern angeschlossen. Seitdem sind nur noch Impfung, Davos und angebliche Lügen das Thema. Der Wendler unter der Finanzbloggern. Ganz gruselig wird es, wenn man einmal die Zustimmungsrate unter den Videos betrachtet. Da hat sich schon eine, wie Gerd Kommer gerne formuliert, geradezu drollig naive Gefolgschaft gebildet. Kein einziges kritisches Wort gegen die vorgebrachte Schwurbelei. Aktien mit Kopf ist leider nur noch Aktien ohne Kopf. Harter Schwurbel-Clickbait – mit hunderttausenden Abonnenten.

Ganz schlimm mit anzusehen: Absturz von Aktien mit Kopf – jetzt Pöbler ohne Kopf

Vermietertagebuch ist ein weiterer Kanal, der ursprünglich einmal für die Vermittlung von Finanzinhalten gegründet wurde. So richtig viral gegangen ist der Kanal nie, bis man dort offenbar erkannt hat, mit Krawallnachrichten viel mehr Reichweite bekommen zu können und viel mehr Geld zu verdienen. Mit Immobilien hat der Kanal jedenfalls überhaupt gar nichts mehr zu tun:

Vermietertagebuch: ein weiterer Finanzkanal in die Schwurbelei abgerutscht

Krissy Rieger, ursprünglich bekannt durch die Gründung des Youtube-Kanals „Die Aktionärin“, spielt ebenfalls die Melodie des Schwurbel-Populismus auf der Medienklaviatur. Da sie mit Finanzinhalten nie wirklich bekannt wurde, schwenkte auch sie um auf Krawallnachrichten, die wesentlich besser laufen.

Von seriösen Videos über Aktien hin zu unseriösem Geschwurbel: Krissy Rieger (früherer Kanaltitel: Die Aktionärin)

Man kann gar nicht so viel essen, wie man gerne kotzen möchte. Hier hat sich auf Youtube eine richtig ekelhafte und ungute Melange gebildet, die einen täglich auf Telegram-Niveau mit immer neuem Great-Reset-Kokolores, Enteignungsphantasien, Lastenausgleichen, Vermögensregistern, Impfpflichten und und und terrorisieren, sich dabei aber selbst als im Lichte der Wahrheit stehend präsentieren.

Die Näheverhältnisse lassen sich übrigens auch in Daten und Zahlen nachvollziehen. Mittels Modularitätsanalyse wurde in dem nachfolgenden Video (als Bild über die Videobeschreibung bei Youtube downloadbar) des Youtube-Kanals Ultralativ graphisch dargestellt, welche Youtube-Kanäle sich gemäß dem Youtube-Algorithmus nahestehen. Die Datenquelle sollte relativ gut sein, da Youtube davon lebt, seinen Zuschauern vor allem Passendes vorzuschlagen.

Interessant, dass Horst Lüning, Marc Friedrich, Krissy Rieger und Dirk Müller (cashkurs.com) im direkten Umfeld mit Xavier Naidoo, Neverforgetniki, Russia Today, Sarah Wagenknecht, edelmetallbezogenen Seiten, Corona-Populisten (Alles außer Mainstream, die Basis sowie die einschlägigen Führungsfiguren des antidemokratischen Teils der Corona-Proteste), Naturheilkundlern, GameoverBilderberger und ServusTV liegen. Sicher sind der Grafik noch mehr einschlägige Medien zu entnehmen, uns sind jedoch glücklicherweise nur die bekanntesten selbst bekannt.

So richtig trennscharf war der Algorithmus zwar wie ersichtlich noch nicht, wenn der vorgenannten Gruppe auch phoenix, Netzkino und WELT relativ nahestehen und an anderer Stelle z.B. mrWissen2go der Kanal „Anthroposoph“. Wobei mindestens Phoenix mit der ständigen Inbezugnahme von übertragenen Parlamentsdebatten oder Bundespressekonferenzen durch Corona-Populisten und ehemalige Focus-Moskaukorrespondenten zusammenhängen könnte und WELT das anschlussfähigere Medium für ebenjene sein könnte, die sich gerade noch einem bürgerlichen Spektrum zugehörig fühlen. Man kann aber wohl eindeutig konstatieren, dass man sich in bedenklicher Nachbarschaft befindet (RT deutsch, Boris Reitschuster, der Corona-Ausschuss, russland.ru, Wissensmanufaktur, Bananenrepublik, SchrangTV, Donald J. Trump). Im Ergebnis scheint sich das Internet hier eben aufzuteilen: den Bereich, der gesellschaftlich anschlussfähig ist und denjenigen, der sich selbst in Opposition zur Mehrheitsgesellschaft (einschlägige Chiffre in Schwurblerkreisen mittlerweile: „Mainstream“) setzt.

Wohingegen echte, d.h. nichtideologisch betriebene, Finanzseiten wie Finanzfluss, FinanzNerd, Der Aktionär, Lars Hattwig, Mission Money usw. weit weg davon stehen.

Das Hauptproblem aller Oppositionskanäle ist der permanente Drang, Nachrichten nun geradezu 180 Grad umgekehrt interpretieren und dann in ein Weltbild einordnen zu müssen, so entsetzlich dumm der Ansatz und das zwangsläufige Ergebnis dann auch sein mögen. Man sollte eigentlich meinen, dass dies die Entdeckung von Unglaubwürdigkeit leichter macht; die Zuschauerzahlen sagen jedoch etwas anderes. Die Geschäftemacher mit der Schwurbelei holen den Teil der Bevölkerung ab, der es mit Überprüfung und gedanklicher Verarbeitung nicht so hat. Wurde im Internet gesagt, muss also stimmen. Wurde auf Telegram gesagt, muss also stimmen. Das alles ist nicht verboten. Üblicherweise sind sich Macher derartiger Propaganda aber dessen bewusst und dann ist es eine persönliche moralische Frage.

Bildung besteht heutzutage in Medienkompetenz

Auch die Zeitschrift Smart Investor, ihres Zeichens Leitmedium der vulgärösterreichischen Schule, blubbert in schöner Regelmäßigkeit vom „Great Reset“ (und wie oben schon geschrieben, permanent von Crack-Up-Booms und Geldsystemcrashs). In der Ausgabe 9/2022 kam ein Dr. Hoffmann zu Wort, der „in einem Interview im Mai 2021 den groben Fahrplan eines relativ kleinen Machtzirkels für die Welt skizziert“ hat – ein bekanntes Verschwörungs-Narrativ. Er setzt Corona-Pandemie auch in Anführungszeichen, wenn er davon spricht.

Nur leider lässt sich die Uhr nicht so leicht zurückdrehen, denn Zinserhöhungen sind angesichts exorbitanter Verschuldung ein zweischneidiges Schwert. Denn in den Bankbilanzen schlummern erhebliche Risiken durch Kredite an sogenannte Zombie-Unternehmen, also solche Unternehmen, die überhaupt nur dank Null- und Niedrigzinsen überleben konnten. Diese Kredite werden bei weiter anziehenden Zinsen zum Problem für die Banken mit erheblichem weiteren Abschreibungsbedarf. Eine Gefahr, vor der schon der ehemalige Degussa-Chef, Dr. Markus Krall, unermüdlich gewarnt hat, wird mit jedem weiteren Zinsschritt nach oben akuter.

SmartInvestor Newsletter 51/2022

Alle vorgenannten, sich ideologisch nahestehenden Kanäle scheinen eine mehr oder weniger große Affinität zur Covidioten-Chiffre „#plötzlichundunerwartet“ zu haben. Fast alle eint diese lächerliche Great-Reset-Verschwörungserzählung, der Untergang des Euros, die Abschaffung des Bargelds, im Gegenzug dafür immer mehr Krypto-Propaganda. Alle haben eine auffällige Nähe zu illiberalen Inhalten und dem Duktus bzw. Habitus der AfD und alle versäumen es nicht, sich dennoch vordergründig artig davon abzugrenzen. Niemand von ihnen möchte selbst in die Politik gehen und Dinge verändern. Weil es leichter ist, auf Youtube aufzuhetzen und nichts wirklich lösen zu müssen. Alle Kanäle sind Symptom der medialen Funktionsweise, dass die Sensation immer schneller umläuft, als die Fakten. Alle Kanäle arbeiten nach dem Beweis des ersten Anscheins und postfaktisch. Alle Kanäle sind auch Ausfluss der im ersten Artikel schon ausgeführten Empfänglichkeit eines substantiellen Bevölkerungsteils für geschlossene mystisch-postfaktische Welterzählungen.

Dagegen können wir nicht viel ausrichten. Was wir tun können, ist permanent aufklären.

Positiv ist, dass auch Medien der Mitte teilweise erkannt haben, dass diese Personen keine Diskursbereicherung sind, sondern Vergifter des Diskurses. Mission Money (und nun in Teilnachfolge Mario Lochner) lädt beispielsweise Marc Friedrich – zu Recht – gar nicht mehr ein, auch Dirk Müller nicht mehr. Krall schon gar nicht mehr. Es wurde lange genug eine Bühne gegeben, bei der man zeitweise schon an False Balance und Medienversagen denken musste.

Fazit

Auslöser für die nähere Beschäftigung mit der grassierenden Irrationalität war die zufällige Beschäftigung mit Anlegerdenkfehlern, die oft genug bloß allgemeine Denkfehler des Menschen sind. U.a. hatten wir uns mit Taleb, Kahnemann und Dobelli beschäftigt.

Schon als allgemeine gesellschaftliche Tendenz ist beispielsweise das im Zeitverlauf angestiegene Bedürfnis nach Autarkie und Entkopplung in verschiedensten – unverdächtigen – Facetten zu beobachten: vollständige Energieautarkie im Haus, Remote Work, die Van-Life-Bewegung, Perpetual Traveling bis hin zur Variante der Staatenlosigkeit nach der Flaggentheorie usw.

Im Einzelfall könnte die verbreitete Ausweitung individueller Autonomiebestrebungen anscheinend geeignet sein, eine Selbstradikalisierung in Richtung Egozentrismus zu fördern, indem sie die Abkopplung von den Mitmenschen und von sämtlichen Verpflichtungen (insbesondere Steuerpflicht) ermöglichen und begünstigen. Selbstverständlich ist die überwiegende Mehrzahl nicht betroffen. Einige aber eben schon.

So, wie sich innerhalb dieser problematischen Gruppe z.B. bei den Querdenkern am Ende doch eine gewisse Homogenität zeigt: mystisch-naturheilkundlich rechts-esoterisch, damit im Kern eine gewisse Ablösung vom Wissenschaftlichen und von der Realität und eine Nähe zu Abschottung und Nationalismus. So zeigt sich auch bei den Finanz-Querdenkern eine gewisse Homogenität: enthemmte Sprache, konsequente AfD-Nähe, Crash-Geschwurbel ohne belastbare Begründung, verschwörungstheoretische Elitenfeindlichkeit, Institutionenfeindlichkeit, im Ergebnis Demokratiefeindlichkeit, jedenfalls gegenüber der hierzulande nun einmal althergebrachten Variante der repräsentativen Demokratie. Und kurioserweise: mittendrin immer wieder Schwaben.

Und es ist wahr, die Dummheit ist eine echt schwäbische Tugend.

Ernst Moritz Arndt

Der Crash-Populismus ist im Kern also nur eine weitere Ausformung dessen, was im ersten Artikel bereits als breitere gesellschaftliche Grundströmung in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts aufkam.

Die Bücher von Dirk Müller, Markus Krall sowie Weik & Friedrich sind Bücher von Laien für Laien. Sie stehen außerhalb eines geregelten wissenschaftlichen Diskurses und sollten deshalb ‒ wie Zigarettenschachteln ‒ deutlich bebilderte Warnhinweise tragen. 

Retten Sie Ihr Vermögen! Jetzt kommt der Crash-Prophet! Teil II: Fakten-Check, neunundvierzig.com

Solche Analysen würden wir uns in Finanzblogs eigentlich wünschen. Stattdessen verbreiten fast alle Finanzblogs täglich wiedergekäut lediglich längst bekannte Banalitäten und bejubeln frenetisch die neueste Investment-Mode („ETF!“, „P2P!“, „Krypto!“), anstatt gemeinsam an Aufklärung zu arbeiten.

Die Prognose sieht düster aus. Wir haben unseren ersten Artikel mit einem Kant-Zitat über den Mangel an Urteilskraft begonnen:

Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt.

Immanuel Kant, in: Die Kritik der reinen Vernunft

Es mangelt an Urteilskraft. Es mangelt an der Fähigkeit, Beobachtungen unter die zutreffende Kategorie zu subsumieren. Deshalb reichen wir hier auch noch das vollständige Kant-Zitat zum Mangel an Urteilskraft nach.

Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.

Immanuel Kant, in: Die Kritik der reinen Vernunft

Was ist Eure Meinung zum neuen Phänomen der Finanz-Schwurbler, vor allem zum Abrutsch einiger bekannter Youtube-Kanäle in die Fragwürdigkeit? Schreibt uns gern einen Kommentar!

Teile diesen Artikel, wenn er Dir gefallen hat oder er auch für andere hilfreich sein könnte! Wir freuen uns auch über jeden Gefällt-Mir-Daumen oder abonniere einfach unsere Facebook-Seite.

Eine 95%ige Steuerbefreiung für Aktiengewinne und eine Steuersatzsenkung auf 15 % für Dividenden klingen wie Musik in Deinen Ohren? Wenn Du Dich für das Thema Aktienanlage in Kapitalgesellschaften interessierst und mehr darüber erfahren möchtest, ist unser Buch Die Sparschwein-UG oder die Sparschwein-UG Betriebsbesichtigung vielleicht das Richtige für Dich! Tritt auch gerne unserer Facebook-Gruppe bei und tausche Dich mit Gleichgesinnten aus!

16 Gedanken zu „Über das metaphysische Bedürfnis in Finanzangelegenheiten (Teil II/II)“

  1. kann aus obigem Artikel für mich persönlich keinen informativen Mehrwert erzielen.
    Viel Text und wenig Information oder Unterhaltung.
    Der Markt bestand vor 100 Jahren aus cleveren und weniger cleveren Menschen. Er besteht jetzt daraus und wird auch in 100 Jahren aus der selben Zusammensetzung bestehen.
    Auch heute sind die meisten durchaus selbst in der Lage, Nepper, Schlepper und Bauernfänger als solche zu erkennen. Finde es problematisch, wenn sich der Autor selbst für klüger als die meisten anderen hält. Der Beitrag hat einen etwas herablassenden Tenor. Die Frage, ob Cleverness oder eine dicke Bücherwand im Rücken besser ist, möchte ich nicht beantworten.
    Es käme dann am Markt auf einen echten Performancevergleich an.

    1. Das ist nicht unsere Wahrnehmung (bis in höchste Bildungsgrade hinein), dass Bauernfängerei (was bei politischer Schwurbelei auf eigentlichen Finanzkanälen schon gar nicht gegeben ist) konsequent erkannt wird. Krall und Friedrich verkaufen Print im siebenstelligen Bereich, Marc Friedrich und Aktien mit Kopf haben jeweils über 300.000 Abonnenten, Vermietertagebuch über 150.000, Krissy Rieger 140.000. Wenn also dem Spektakel auch einmal eine abweichende Einordnung entgegengesetzt wird, halten wir das für hilreich, denn nicht alle reflektieren ihren Medienkonsum.

  2. Gerade der „Absturz“ von Aktien mit Kopf kam für mich doch sehr überraschend.

    Nach einiger Zeit mal wieder einen Blick auf die Seite und in den Blog geworfen und direkt mit den bekannten Signalwörtern wie „Mainstream“, „Zensur“, „Eliten“ empfangen worden.

    Und leider hat sich beim weiteren Lesen (wieder) mal bestätigt, dass sobald diese Schlagworte in einem Artikel / Blog erscheinen und als Argument verwendet werden, eine Beschäftigung mit dem weiteren Inhalt nur Zeitverschwendung ist.

    Weitere Beispiel hierfür:

    Bei „Blackwater live“ fand man vor Jahren interessante Themen und Diskussionen zum Bereich Finanzen, Vermögen etc.
    Irgendwann aber ist dieser Blog dann leider auch in den „Widerstand“ gegen besagten „Mainstream“ abgeglitten und verbreitet nun hauptsächlich Geraune und Pro Putin Artikel.

    Was bei manchen ein Abgleiten in die „Schwurbelecke“ bewirkt, dazu habe ich leider keine Erklärung.

  3. Die Anzahl der Klicks bzw Follower ist per se weder positiv noch negativ konnotiert. Es geht um Umsatz.
    Jeder, und zwar ausnahmlos jeder Mensch, ob in Politik, Wirtschaft, Finanzen oder die Leser hier oder woanders, jeder hat sein persönliches und ureigenes Geschäftsmodell und damit verbundene Interessen. Die einen trägt es nach oben und die anderen fallen runter. Wenn man die Zahl der Aktien/ETF Besitzer gesamt in Deutschland mit geschätzt 10 Millionen in Relation zu 100 000 Abonnenten setzt, dann ist das 1%. Vulgo 99% sind nicht so doof. Also was soll der Ärger. Was ich nicht mag, wenn sich über andere in Abwesenheit abschätzig geäußert wird und ganze Bevölkerungsgruppen pauschal abqualifiziert werden.
    Es besteht zumindest theoretisch und nach der Wahrscheinlichkeit die Möglichkeit, das hie und da doch höherer Geschäftssinn als bei uns selbst vorzufinden ist.

  4. Ich habe den Abrutsch von Vermietertagebuch und Aktien mit Kopf selbst fassungslos verfolgt. Beide haben vorher meiner Meinung nach viele gute Videos produziert und es plötzlich einen Knall gab und täglich Videos mit irgendwelchen verdrehten Fakten rauskamen. Besonders schockiert haben mich allerdings die Kommentare. Ich hatte erwartet dort massiven Wiederspruch vorzufinden aber die Realität war leider genau das Gegenteil. Im Prinzip haben ein Großteil der Finanzblogs, die ich seit 2014/15 verfolge ihren Betrieb entweder eingestellt, verkaufen nun fragwürdige Produkte oder spammen mit Verschwörungsnonsense. Ich finde das sehr traurig. Wenigstens halten ein paar Blogs und Kanäle die Flagge hoch und verbessern die deutsche Finanzbildung. Finanzfluss ist hier wohl ganz vorne zu nennen. Jetzt sogar mit Interviews von Spitzenpolitikern, die im Gegensatz zu Finanzschwurblern wirklich etwas erwirken, sei es nun gut oder schlecht oder (meist) irgendwo dazwischen.

    Vielleicht gebt ihr auch mal ein Update zum gehebelten Investment? Ich bin sehr gespannt wie ihr das im Umfeld der aktuellen Zinsen seht und selbst umsetzt.

    1. Hi Philipp,
      beruhigend, dass wir nicht die einzigen sind, die die beschriebenen Wandlungen anstößig finden 😉
      Ja wir haben das weitere Thema Schwurblertum jetzt hoffentlich final abgeschlossen und auch das Thema geopolitische Großkrisen, und können uns jetzt zeitnah wieder normalen Themen zuwenden 😉

  5. Mir war schon immer bewusst, dass es viele Spinner gibt – unabhängig von den Crash-/Gold-/Prepper-Leuten, die schon lange präsent sind. Seit Corona ist dann aber zutage getreten, wie unfassbar viele es wirklich sind. Es ist erschreckend. Gerade beim Thema Impfung und dem unsäglich beknackten „Great Reset“-Schwachsinn könnte man die Wände hochlaufen. Und dass da auch einige Leute mitgehen, die ich eigentlich für klüger gehalten hätte, insbesondere aus dem privaten Umfeld, ist auch schwer zu verdauen.
    Der Artikel selbst geht mir allerdings dennoch ein bisschen zu sehr ins Bashing. Und dass z.B. bei diesem Nicki auf Correctiv oder den Faktenfuchs des Bayerischen Rundfuns verwiesen bzw. verlinkt wird, also Schwurbler und vermeintliche Faktenfinder aus der genau anderen Ecke, oder auch das von Coronamaßnahmenfanatikern in die Welt gesetzte (ebenfalls falsche) Narrativ der False Balance, macht es dann auch nicht wirklich besser.
    Ich hoffe jedenfalls, es kommt irgendwann mal wieder was zum Hauptthema dieses Blogs. Gruß

    1. Private Finanzen und Aktienkultur sind das Hauptthema des Blogs. Und was an Correctiv Schwurblertum ist, ist uns auch unklar.

      1. Echt nicht? Correctiv ist ein unverholen linkslastiges Medium, deren „Faktenchecks“ mit Unabhängigkeit so viel zu tun haben, wie Dirk Müller Premiumfonds mit kluger Geldanlage.

  6. Danke für diesen, mal wieder, hervorragenden Artikel, der keineswegs „Bashing“ betreibt, sondern aufzeigt wie es (leider) ist.
    Dass in der youtube-Randspalte viel Unsinn auftaucht, war schon immer so. Jedoch empfand auch ich es als bizarr, wie auf Aktien mit Kopf quasi innerhalb kürzester Zeit ein Schwurbler-Lügen-Propaganda-Kanal wurde. Einigermaßen fassunglos fragte ich mich damals, was Kolja Barghoorn wiederfahren sein musste, um sein eigenes Denken, seine Reputation und Geschäftsgrundlage derart über Bord zu werfen. (Ist die Schwurbelei tatsächlich nur das bessere Geschäftmodell oder haben diese Leute irgendwann zuvor ein starkes Traumata erlebt?)
    Ich bin der festen Überzeugung, dass diese, u.a. von ihnen genannten Personen eine Gefahr für unsere Gesellschaft darstellen, die von falschen Anlageentscheidungen über Radikalisierung bis hin zu Mord (siehe Walter Lübke) reicht. Meines Erachtens nach ist es mehr als überfällig, diesen „Informationsmedien“ massiv etwas entgegenzusetzen, sei es seitens investigativer Medien oder auch des Gesetzgebers. Regelmäßig frage ich mich nach dem Kontakt mit derartigen Schwurbeleien, Unwahrheiten sowie der Hetze/Beschimpfungen von öffentl. Personen und Amtsträgern usw., wo eigentlich diese sogenannte wehrhafte Demokratie ist oder wie der Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung aussieht. Wie viel muss sich eine Gesellschaft von Einzelnen zumuten lassen?

    1. Hallo Chris,
      Danke für Deinen Kommentar. Wir sind auch immer wieder aufs Neue überrascht, wie sehr das bis in die Mitte der Gesellschaft strahlt, dieser neuartige Krawallinformationsraum.
      Beste Grüße

  7. Danke für diesen sehr ausführlichen und wichtigen Beitrag! Durch Zufall habe auch ich den Zerfall von Kolja mitbekommen und mich gefragt, wie es sein kann, dass absolut kein Gegenwind unter den Kommentaren zu finden ist. Erstaunlich zudem, wie er 2-3 Videos am Tag „hinrotzt“ (sorry für die Ausdrucksweise) und es abgefeiert wird, als ob er die Lösung für alle Probleme gefunden hätte. Darüber dann auch auf Vermietertagebuch gekommen – Hilfe! Krall und co waren mir bereits bekannt, aber wirklich schön zu sehen (und zu lesen), dass diese gefährliche Entwicklung auch von anderen äußerst kritisch gesehen wird. Bin sogar am Überlegen, auf Youtube aktiv gegen diese Verdrehung von Fakten vorzugehem, bin mir aber (leider) fast sicher, dass das nichts bringen würde.
    Wirklich: Danke für den Artikel!

  8. Was ist Eure Meinung zum neuen Phänomen der Finanz-Schwurbler, vor allem zum Abrutsch einiger bekannter Youtube-Kanäle in die Fragwürdigkeit? Schreibt uns gern einen Kommentar!

    Nachdem es verdächtig still geworden ist auf atypischstill.com gebe ich die Frage gerne zurück an die Autoren dieses Artikels. Immer noch alles fragwürdig?

    Zitat aus eurem Pamphlet: Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt.
    Immanuel Kant, in: Die Kritik der reinen Vernunft

    Nein. Dummheit ist, immer wieder dasselbe zu tun und ein anderes Ergebnis zu erwarten!

  9. Max Otte hat ja auch eigene Fonds – immerhin fand ich dieses offene immer etwas mehr, naja, „ehrbarer“. Sind Fonds doch sehr leicht vergleichbar um die Leistung zu messen. Die meisten verstecken sich ja sonst eher in privaten Mandaten oder irgendwelchen Investmentbriefen.

    Seit 10 Jahren hat sein reiner Aktienfonds (A0NE9G – PI Global Value) gerade mal so, wenn überhaupt, einen Inflationsausgleich geschafft. 2,9 % p.a., dann noch Kosten und Steuern weg und man landet bei +-0 oder noch etwas drunter. Ein MSCI-World-ETF liegt bei 10 Jahren bei ca. 11 % p.a.
    Auf die letzten 3 Jahre ist der Fonds knapp 10 % im Minus – ein MSCI World 30 % im Plus.
    Alle Daten jeweils inkl. Ausschüttungen.

    Auf den Webseiten von Otte wird aktuell ein Spezialreport (natürlich von Otte persönlich geschrieben) angepriesen, wie man jetzt sein Geld vor der Inflation rettet – also von jemanden der selbst im absoluten Aktienbullenmarkt nicht mal die Inflation schlagen konnte. Herrlich!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Atypisch Still